Der Gedankenleser
allem musste ich mir eingestehen, dass Annas drastische Gedanken im Wesentlichen das ausdrückten, was ich eigentlich auch schon lange empfunden hatte. Ich war unserer Ehe überdrüssig, ich hatte keine Lust mehr, ich langweilte mich maßlos und steckte voller geheimer Sehnsucht nach einem wie auch immer gearteten anderen Leben. Im Gegensatz zu mir allerdings hatte Anna den Mut aufgebracht, dies alles für sich in Gedanken zu formulieren. Ich war zu feige oder zu behäbig dazu gewesen. Mich musste erst der Blitz treffen, damit ich die Dinge beim Namen nennen konnte.
Ohne den Unfall und seine Folgen hätte ich mich wohl verloren.
10
Nach unserem »Todesfrühstück« habe ich nicht eine Nacht mehr mit Anna unter einem Dach verbracht. Ich nahm mir ein Zimmer in einem kleinen Hotel, ließ mich noch eine weitere Woche krankschreiben und hatte nur eines im Sinn: die Trennungsformalitäten so schnell wie möglich zu erledigen. Als ich in das Hotel einzog, wurde mir zum ersten Mal klar, wie wenige Dinge man eigentlich braucht - und wie angenehm es ist, sich auf das Nötigste zu beschränken. Hatte ich doch zeit meines Lebens eine Menge Tand mit mir herumgeschleppt. Und jedes Jahr waren es mehr Gegenstände geworden, die mir den Blick auf die Gegenwart verstellten. Was sich in den Dekaden meiner Existenz so alles angesammelt hatte: unzählige Fotografien, Uhren, Bilder, Poster, Figuren, Spielzeug aus der Kindheit, nie gelesene oder für schlecht befundene Bücher, nicht mehr getragene Kleidungsstücke, Ringe, edle Füllfederhalter, alte Schallplatten, Kerzenständer, Geschirr, Gläser, Bilderrahmen, antike Lampen, ein Radio aus der Nachkriegszeit, Souvenirs ...
Ich wollte all das Zeug nicht mehr. Sollte Anna damit machen, was sie wollte.
Nun bestand meine Habe lediglich aus zwei Koffern, gefüllt mit Kleidung, und zwei Reisetaschen, gefüllt mit Büchern und CDs. Darunter eine Rilke-Biografie, die gesammelten Werke von Novalis sowie sämtliche Sinfonien Mahlers, Beethovens, Tschaikowskys, eine Bach-Edition und einige CDs von Johnny Cash und Frank Sinatra.
Die ersten Tage ohne Anna und in der neuen Umgebung waren atemberaubend. Plötzlich steckte ich in einem fremden Leben. Nie zuvor hatte ich einen derart großen Schritt gewagt, und nie zuvor waren binnen weniger Stunden die wichtigsten Säulen meiner Existenz komplett weggebrochen. Ich hatte kein Zuhause mehr, und meine Ehe gab es nur noch auf dem Papier. Ich war fasziniert und zugleich beängstigt von den neuen Lebensumständen.
Als ich mich das erste Mal nach unserem denkwürdigen Sonntagsfrühstück mit Anna traf, in einem Biergarten unweit unseres Hauses, empfand ich weder Wehmut noch Zorn. Ich hatte mir einige Notizen gemacht, über was ich alles mit ihr sprechen wollte. Dahinter steckte die Sorge, etwas Wichtiges zu vergessen, aber noch mehr die Angst, während des Gespräches den Faden zu verlieren. Ich wollte auf keinen Fall etwas Unbedachtes sagen oder mich von Gefühlsausbrüchen übermannen lassen. Ich wollte ruhig und sachlich sein. Also hielt ich mich an meinem Spickzettel fest wie an dem Geländer einer Hängebrücke. Die zu überqueren ich gezwungen war; so jedenfalls kam es mir vor. Anna passte sich meinem Verhalten sofort an. Sie reagierte eigentlich nur auf das, was ich sagte, wirkte konzentriert und beherrscht. Ihre Gedanken wollte ich keinesfalls hören, davon hatte ich genug, und deshalb setze ich mich in gebührendem Abstand zu ihr an den Tisch.
Die Unterredung, so möchte ich unsere Zusammenkunft einmal nennen, dauerte kaum mehr als eine Stunde. Wie seltsam, dachte ich, während wir über den Verkauf unseres Hauses sprachen, alles ist ohne Bestand. Auch unsere vierzehn gemeinsamen Jahre waren von heute auf morgen in der Weitläufigkeit der Zeit verschwunden. Vor mir saß eine Frau, die ich zwar kannte, die jedoch wie eine Fremde auf mich wirkte. Selbst die Konturen ihres Gesichts schienen mir plötzlich nicht mehr vertraut, zu grell war das neue Licht, in dem ich sie sah.
Ich wunderte mich, dass ich gleichzeitig reden und nachdenken konnte. Mit Anna sprach ich über verschiedene Immobilienmakler, in meinem Inneren aber war ich mit der Frage beschäftigt:
Was bedeutet die neue Freiheit nun für mich?
Unser Haus, in das wir so viel Herzblut investiert hatten, war mir egal geworden. Auch Anna erweckte den Anschein, als hegte sie keinerlei sentimentale Gefühle für das Gemäuer. Ob das allerdings wirklich so war, weiß ich nicht.
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