Der Gedankenleser
schon.«
Und tatsächlich, kurz darauf gab es einen heftigen Ruck, und der Aufzug fuhr hoch zum vierten Stock, wo sich die Tür sofort reibungslos öffnete.
»Na, das ging ja schneller, als wir dachten, oder?«, sagte der Mann in freundlichem Ton, während wir den Aufzug verließen. Ich schwieg. Das Mädchen plapperte erleichtert: »Ja, ich dachte schon, das würde ewig dauern, es ist so eng da drin, na ja, aber Gott sei Dank ist das Licht nicht auch noch ausgefallen, ich glaube, demnächst nehme ich lieber die Treppe, bin mal gespannt, was meine Kolleginnen sagen, wenn ich ihnen alles erzähle, aber jetzt muss ich wieder an die Arbeit, auf Wiedersehen!«
Auch ich verabschiedete mich und blickte den beiden nach, wie sie sich in verschiedene Richtungen entfernten.
Plötzlich empfand ich Angst vor dem nächsten Tag. Ich würde wieder zu arbeiten beginnen, so war es geplant. Und mir wurde klar, dass ich mir noch kein einziges Mal wirklich vor Augen geführt hatte, was es bedeutet, als Gedankenleser viele Stunden am Tag eng mit anderen Menschen zusammen sein zu müssen.
11
Mein erster Tag in der Redaktion war die Hölle.
In vielerlei Hinsicht.
In den Wochen nach meinem Unfall hatte ich mich völlig aus der Welt der Nachrichten verabschiedet. Ich wusste zwar grob, was auf den Kontinenten passiert war, aber damit hörte es auch schon auf. Und so saß ich während unserer Neun-Uhr-Konferenz schweigend am Tisch und verspürte ein ähnliches Gefühl wie früher in der Schule, wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Der Vergleich hinkt etwas da mir ja keine Arbeit nach Hause geschickt worden war, die es zu erledigen gegolten hätte. Aber zum Selbstverständnis eines jeden Journalisten gehört, dass er auch während des Urlaubs oder einer Erkrankung die Zeitung liest, politische Sendungen im Fernsehen oder im Radio verfolgt, sich schlichtweg auf dem Laufenden hält. Genau das jedoch hatte ich nicht getan, und so saß ich angespannt in der Runde und hatte Angst wie ein Pennäler, dass mein Versäumnis auffliegen könnte. Zwar bemühte ich mich um eine wissende und professionelle Mimik, aber ich war mir keinesfalls sicher, ob meine Tarnung ausreichen würde. Ich hatte zudem keine Ahnung, worüber die Kollegen so engagiert debattierten - und im Grunde war es mir auch egal. Es ging um einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, um irgendwelche Äußerungen des Außenministers während einer Asienreise, die siebenhundertfünfzigste EU-Krise, um einen Geheimdienstskandal und die gestiegenen Milchpreise. Wie fern mir das alles lag und mit wie viel Widerwillen ich zuhörte! Gleichzeitig überkam mich Panik, denn ich würde ja nun so schnell wie möglich all meine Wissenslücken auffüllen müssen, um wieder normal arbeiten zu können. Aber dazu fehlte mir jeglicher Antrieb. Meine berufsbedingte Neugierde war fast auf den Nullpunkt gesunken. Wie sollte ich das alles schaffen?
Neben dieser Angst, meiner grundsätzlichen Unsicherheit und dem Missbehagen, überhaupt wieder im Büro sein zu müssen, war ich einem ständigen Bombardement von Gedanken oder Gedankenfetzen ausgesetzt, sowohl während der Konferenz als auch in den darauffolgenden Arbeitsstunden. Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. So viele Informationen musste ich verarbeiten, so viel Fremdes und Absonderliches bekam ich zu hören. Dabei galt es, akribisch aufzupassen, denn ich durfte ja nur auf das wirklich Gesprochene reagieren, niemals auf das, was ich über die Stimme wahrnahm. Den ganzen Tag lang versuchte ich, meinen Kollegen auszuweichen und sie auf Abstand zu halten, was aber in der Betriebsamkeit des Großraumbüros unserer Redaktion kaum möglich war.
Schon an diesem ersten Arbeitstag brach eine weitere Welt für mich zusammen. Ich hörte Gedanken von meinen beiden besten Kollegen, die mich fassungslos machten.
Isabelle und Lars kannte ich schon über zehn Jahre. Isabelle war eine unserer Redaktionssekretärinnen, und Lars arbeitete wie ich als Redakteur. Zwischen uns bestand, zumindest war ich bis zu jenem ersten Arbeitstag nach meinem Unfall davon ausgegangen, ein enges Vertrauensverhältnis. Ich hätte für beide meine Hand ins Feuer gelegt. Weder Lars noch Isabelle hatten mich in den vielen gemeinsamen Jahren je enttäuscht. So manchen beruflichen Kampf hatten wir Seite an Seite ausgetragen und uns auch oft über Privates unterhalten. Wie das unter vertrauten Arbeitskollegen eben so üblich ist.
Außerhalb des
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