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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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genug war, irgendetwas zu unternehmen. Ich hätte unseren Restaurantbesuch unter einem fadenscheinigen Vorwand abbrechen können. Das wäre zwar nicht höflich gewesen, aber allemal besser, als dort sitzen zu bleiben. Oder ich hätte mich der banalen Konversation auch einfach verweigern können. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn ich nichts mehr gesagt hätte. Stattdessen quasselte ich mit Helga fast um die Wette, nur um den Schein zu wahren.
    Einmal versuchte ich, dem Gespräch doch noch eine radikale Wendung zu geben. An zugegebenermaßen unpassender Stelle (denn es gab keine passende Stelle) fragte ich sie, wie sie vor drei Jahren den plötzlichen Tod ihrer Mutter verarbeitet habe. Sie schaute mich überrascht an, denn eigentlich war diese Frage für unser Verhältnis zu persönlich. Aber dann sagte sie: »Es war sehr schwer, die ersten Monate habe ich abends immer geweint und bin jeden Tag zum Friedhof gegangen. Erst nach einem halben Jahr fing ich an zu begreifen, dass sie nicht mehr da ist.«
    Ich nickte und wollte gerade nachfragen, wie alt denn die Mutter geworden sei, da hörte ich sie denken:
     

    Hätt ich mir damals bloß nicht den teuren Sarg aufschwatzen lassen. Überhaupt, die Beerdigungskosten. Ein Vermögen. Unglaublich. Könnte mich immernoch darüber schwarzärgern. Ich hätt nur einen größeren Grabstein nehmen sollen. Der jetzt sieht aus wie ein Arme-Leute-Stein. Macht doch gar nix her. Die ganze Verwandtschaft hat schon drüber hergezogen.
     

    Danach hatte ich kein Interesse mehr, mich mit Helga über ihre Trauer und ihre tote Mutter zu unterhalten.
    Die anderen Themen, die wir während des Essens noch anschnitten, sind nicht der Rede wert. Als wir endlich fertig waren und der Kellner die Rechnung brachte, dachte Helga:
     

    Ich werd mein Portemonnaie jetzt mal stecken lassen. Nein, ich werd so tun, als fände ich es nicht sofort. So kann ich ein paar Sekunden herausschinden. Dann muss er zahlen.
     

    Und genau so sollte es dann auch kommen. Erst als ich einige Scheine aus meiner Hosentasche gezogen hatte, tat sie so, als hätte sie ihre Geldbörse gefunden. Ich gab dem Kellner das Geld und sagte zu Helga: »Du bist eingeladen.« Darauf sie: »Ach, das wäre aber nicht nötig gewesen, vielen Dank.« Und die Sache war erledigt.
     

    Wieder in der Redaktion, zog ich mich in eine durch mannshohe Trennwände geschützte Ecke unseres Großraumbüros zurück und versuchte mich weiter mit meinem Thema Haushaltsdebatte zu beschäftigen. Die Kollegen ließen mich allesamt in Ruhe. Ich glaube, sie wollten mich schonen und mir Zeit lassen, mich wieder in den Alltag einzufinden. Wäre ich nach einer Blinddarmoperation oder einer profanen Grippe ins Berufsleben zurückgekehrt - ich bin sicher, man hätte sofort wieder vollen Einsatz von mir verlangt. So aber begegneten sie mir mit einem gewissen Respekt. Denn vom Blitz getroffen worden zu sein war nichts Alltägliches, hatte für einige vielleicht sogar etwas Unheimliches. Zumal ich offensichtlich etwas wesensverändert wirkte. Mir sollte das alles nur recht sein. Sogar Lars und Isabelle verhielten sich eher distanziert. Was aber sicher an meiner Mittagsverabredung mit Helga lag. Diesen Wink mit dem Zaunpfahl hatten sie verstanden. Denn unter normalen Umständen wäre ein gemeinsames Mittagessen mit den beiden an meinem ersten Arbeitstag ein absolutes Muss gewesen. Was sie nun genau über mich dachten, weiß ich nicht, da ich ihnen ebenfalls aus dem Weg ging. Nur einmal machte Isabelle eine Andeutung. Sie lugte hinter meine Trennwand und sagte: »Na, so kennen wir dich ja gar nicht. Sitzt hier ganz zurückgezogen in der Ecke. Hast wohl keine Lust auf uns alle? Aber das gibt sich hoffentlich in den nächsten Tagen.«
    »Ich muss viel nacharbeiten und mich einlesen«, antwortete ich. »Hier habe ich noch am ehesten Ruhe.«
     

    Während des Nachmittags schaute ich immer und immer wieder auf die Uhr. Was mich sehr erschreckte. Das hatte ich seit Jahrzehnten nicht mehr getan. Ich wollte, dass die Stunden so schnell wie möglich vergingen. Ich sehnte den Feierabend herbei, also meine Freiheit.
    Genau wie damals, als ich in den Semesterferien am Fließband einer Autofabrik gearbeitet hatte. Das waren furchtbare Wochen gewesen. Ich hatte nur eins im Sinn, die Zeit.
    Tausendmal stierte ich während meiner Schicht auf die Uhrzeiger, in der Hoffnung, so das Verstreichen der Stunden, Minuten und Sekunden beschleunigen zu können. Was die Sache natürlich noch

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