Der Gedankenleser
singenden Titanen nie.
Einen knappen Kilometer von unserem Verlagshaus entfernt, allerdings noch an derselben Straße, lag der älteste Friedhof unserer Stadt. Jeden Abend fuhr ich an der langen, uralten Friedhofsmauer vorbei. Sie war vom Krieg verschont geblieben und weckte in mir geradezu märchenhafte Fantasien. Dahinter hätte sich durchaus ein verwunschenes Schloss oder eine mittelalterliche Burg verbergen können, so malerisch war sie anzusehen. Ich schätzte ihr Alter auf mindestens zweihundert Jahre. An einigen Stellen war sie mit wildem Efeu überwuchert, und längs der Innenseiten standen ausladende Bäume. Meist Linden und Buchen. Gräber konnte man von der Straße aus nicht sehen. Aber schon vor Jahren war mir ein Kupfertäfelchen mitten am Mauerwerk aufgefallen. Vielleicht dreißig mal dreißig Zentimeter, mit einer kleinen gravierten Inschrift. Fast verloren klebte es auf Augenhöhe an der Steinfläche. Eines Abends entschied ich mich, dem Geheimnis der kleinen Tafel auf den Grund zu gehen. Ich hielt genau davor an, stellte den Motor ab und stieg aus. In Sütterlinschrift, die ich noch von meinem Vater gelernt hatte, stand da zu lesen:
»Geh nicht vorüber ohne fromme Gebete! Du, bald der Unsrige.«
Vielleicht birgt die Endlichkeit ja auch eine große Chance, dachte ich, als ich wieder im Auto saß. Sie könnte ein Ansporn sein. Würde man unendlich lange leben, wäre alles egal. So aber ist jede Stunde, jede Minute wertvoll wie Gold. Aber dann übermannte mich doch wieder die Traurigkeit darüber, dass alles vergeht. Ich dachte an die vielen Toten auf dem Gottesacker. Ein jeder hatte gehofft, geliebt, gelitten ... Und wofür? Einzig für den Tod.
Ich dachte an die tränengetränkte Erde des Friedhofs. An die ungezählten Worte des Abschieds, die dort schon gesprochen oder gedacht worden waren. An die einsam Gestorbenen. An die in ihren Gräbern Vergessenen. An all die, die sich noch mitten im Leben wähnten, aber vielleicht schon morgen hinabgelassen würden in ihre Gruft.
Und ich dachte daran, dass selbst jede Erinnerung einmal sterben wird.
Es fing leicht zu regnen an, und ein dünner Nebel war aufgezogen. Die Welt draußen lag im Zwielicht, viel konnte ich nicht mehr von ihr sehen. Mit knapp vierzig Stundenkilometern rollte ich leise über eine schmale Waldstraße.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der alles überstrahlte:
Du lebst noch!
Welch ein Glück. Welch eine Gnade.
Aber dann lebe auch!
Genau in diesem Moment - im Himmel musste es einen guten Hollywood-Regisseur geben, der für mich zuständig war - dröhnten die ersten Takte von »New York, New York« aus den Boxen. Ich gab etwas mehr Gas, öffnete mein Fenster und ließ mir die kühle Abendluft um die Nase wehen.
Ich war sicher, Frank Sinatra hätte mich in meiner Selbstaufforderung zu leben so rigoros bestärkt, mir wäre gar keine andere Wahl geblieben.
Noch am selben Abend beschloss ich, aus meiner selbstgewählten Isolation herauszutreten. Seit so vielen Wochen hatte ich kein privates Wort mehr mit irgendjemandem gewechselt. So einsam war ich noch nie gewesen. Meine Arbeitskollegen hatte ich ja alle abgehakt, und sonst gab es niemanden mehr in meinem sozialen Umfeld. Also musste ich mich auf die Suche nach Menschen machen. Aber wie sollte ich das anstellen? Mich in eine Kneipe setzen und irgendjemanden anquatschen? Einem Sportverein beitreten!1 Im Internet in einer Single-Börse mitmischen? In meinem Alter gar noch zum Tanzen in eine Disco gehen? Nein, ich wollte ja keine neue Partnerin finden. Danach stand mir nicht der Sinn. Ich hatte lediglich Sehnsucht nach einem vertrauten Menschen. Und da fiel mir Moritz ein. Mein alter Freund Moritz. Über zwanzig Jahre waren wir befreundet gewesen, und nun hatte ich ihn bestimmt schon zehn Jahre nicht mehr gesehen. Schuld daran trug allein ich. Denn ich hatte mich damals nur noch für Anna und mein Eheleben interessiert. So war unsere Freundschaft versandet. Es hatte keinen Streit gegeben, es war nichts vorgefallen. Er hatte lediglich irgendwann mein Desinteresse gespürt und sich zurückgezogen.
Wie mochte es ihm gehen? Wo wohnte er? Wie lebte er? War er inzwischen verheiratet? Hatte er Kinder? Was machte er beruflich? War er glücklich? Hatte er ab und zu an mich gedacht? Oder war er böse auf mich?
Ich hätte es ihm nicht verdenken können.
Nach längerem Suchen fand ich in meinem PC seine alte Mobilnummer, und ich nahm mir vor,
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