Der Gedankenleser
ansehnlicher Kerl gewesen. Groß gewachsen, blond, schlank, durchtrainiert, immer tadellos gepflegt. Nun erkannte ich ihn im ersten Moment fast nicht wieder. Als er seine Wohnungstür nach längerem Klingeln öffnete, fehlten mir die Worte. Ich stierte ihn an, in meinem Gehirn lief sekundenschnell ein Suchprogramm durch, und dann lächelte er ein wenig. Das war das Erkennungszeichen. Er hatte zwar immer sehr weiße, gesund aussehende Zähne gehabt, aber sie standen alle irgendwie seitlich schief. Ich glaube, man konnte höchstens zwei oder drei völlig normal gewachsene Zähne in seinem Lächeln entdecken, der Rest hätte begradigt werden müssen. Dies war unverwechselbar das Moritz-Gebiss. Der Rest jedoch wich stark von meinen Erinnerungen an ihn ab. Er hatte schätzungsweise vierzig Kilo zugelegt, wenn nicht mehr, die Haare waren ergraut, fettsträhnig und von mittlerer Länge. Ganz im Gegensatz zu früher. Damals hatte er seine strohblonden Haare kurz und nach oben gefeit getragen. Und dann waren da noch seine Augen. Ich hatte ihn immer darum beneidet, mit ihnen war er in unseren jungen Jahren der Schwärm aller Mädels gewesen. Rehbockbraun, groß, klar. Und nun? Glasig wirkten sie, matt und abwesend.
Nach ein paar Schweigesekunden, während derer ich nichts aus seinem Kopf wahrnehmen konnte, gaben wir uns schließlich die Hand, und er bat mich herein. Es war zwar seine alte Wohnung, aber alles dort erschien mir fremd. Kein vertrautes Möbelstück von früher, kein mir bekanntes Bild an der Wand, keine Gegenstände aus unserer gemeinsamen Vergangenheit. Dafür sah es überall ordentlich und etwas steril aus. Was mich wunderte, da Moritz immer ein chaotischer Typ gewesen war, mit nur marginal ausgeprägtem Ordnungssinn.
Er setzte sich auf einen Sessel, und ich nahm in gebührendem Abstand auf der Couch Platz.
Er bot mir Cognac an. Früher hatten wir uns unzählige Male mit Cognac betrunken, dabei Musik gehört, Videos geguckt, uns über Frauen unterhalten, manchmal gekifft oder auch ganz einfach nur herumgealbert.
Ich nahm gern ein Glas, weil ich hoffte, so meine Nervosität etwas in den Griff zu bekommen. Also tranken wir Cognac, wie in den alten Zeiten - und genau über diese begannen wir dann auch zu reden. Weißt du noch? Was macht der oder die? Ist ja verrückt, das hätte ich nie gedacht! Stell dir vor, die beiden haben geheiratet. Von dem habe ich nie wieder etwas gehört. Und so weiter. Dann kamen wir auf unsere Arbeit zu sprechen. Das heißt, er lobte, wie er sich ausdrückte, meine »Schreibe«. Er habe in letzter Zeit immer wieder Artikel von mir gelesen und sei stolz auf seinen alten Freund Arne. »Und du? Bist du immer noch bei Johnen?«, fragte ich. Johnen & Partner war das größte Architekturbüro unserer Stadt. Moritz hatte dort, ein oder zwei Jahre bevor unser Kontakt eingeschlafen war, eine Stelle als Bauingenieur angenommen.
»Nicht direkt«, antwortete er.
»Nicht direkt? Was heißt das?«
»Na ja, ich bin dort nicht mehr angestellt, aber ab und zu fragt man mich für einzelne Projekte an.«
»Und davon kannst du leben?«
»Eher weniger, aber ich komme schon über die Runden.«
»Warum suchst du dir keinen neuen festen Job?«
»Bin ja dabei, mal sehen, was daraus wird. Ist in meinem Alter aber nicht mehr so einfach ...«
Ich hatte den Eindruck, dass er nicht weiter über dieses Thema sprechen wollte. Was mich schon etwas wunderte, da wir früher immer offen und ausführlich über alle beruflichen Belange diskutiert hatten. Ebenso erstaunte mich seine Situation. Warum fand er keine Arbeit? Soweit ich mich erinnern konnte, galt er als Spezialist in seinem Fach, war stets ehrgeizig und erfolgreich gewesen. Aber nun gut, dachte ich, er wird seine Gründe haben, und wir redeten eine Weile über Belanglosigkeiten.
Nach dem dritten Glas Cognac fragte mich Moritz nach Anna.
Und ich berichtete.
Als ich erzählt hatte, was zu erzählen möglich war, fragte Ich ihn: »Und bei dir? Damals warst du schwer verliebt. Was Ist daraus geworden?«
»Eine ganze Menge. Ich war mit Birte sieben Jahre zusammen, und wir haben eine gemeinsame Tochter.«
»Oh, mein alter Freund ist Vater. Big Daddy Moritz! Gratulation! Und jetzt seid ihr getrennt?«
»Ja.«
»Warum?«
»Es ging einfach nicht mehr. Sie ist mir tierisch auf die Nerven gegangen. Es war anders als bei dir und Anna. Birte hat mich zugequatscht. Es verging kein Tag, an dem wir nicht über unsere Gefühle gesprochen haben. Sie fing
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