Der Gedankenleser
ihn am nächsten Tag anzurufen.
13
»Ja, bitte?«
»Spreche ich mit Moritz?«
»Ja, wer ist da?«
»Arne!«
»Arne?«
»Ja!«
»Arne Stahl?«
»Ja! Ich hoffe, ich störe nicht.«
Die Nummer stimmte also noch, und ich hatte ihn tatsächlich an der Strippe. Ich war aufgeregt und unsicher. Was sagt man zu jemandem, dem man aus offenkundiger Gleichgültigkeit einst den Rücken zugekehrt hat? Ich rechnete mit allen möglichen Reaktionen. Zurückweisung. Zorn. Distanz. Hohn. Misstrauen. Am allerwenigsten jedoch mit Unvoreingenommenheit.
»Nein, du störst nicht. Wie geht es dir?«
Er sprach in einem Tonfall, als hätten wir erst letzte Woche miteinander telefoniert.
»Es ist viel passiert.«
»Ja, bei mir auch.«
»Wohnst du noch in deiner alten Wohnung?«
»Inzwischen wieder, ja. Und ihr?«
»Ihr gibt es nicht mehr. Ich lebe zurzeit in einem kleinen Hotel.«
»In einem Hotel? Hast du dich von Anna getrennt?«
»Ja, wir werden uns scheiden lassen.«
»Oh, das hätte ich niemals gedacht.«
Es entstand eine kurze Gesprächspause.
»Hast du eine Freundin oder eine Frau?«, fragte ich ihn.
»Nein. Seit knapp zwei Jahren bin ich wieder alleine.«
Und wieder schwiegen wir. Diesmal jedoch länger.
»Moritz, es tut mir sehr leid, dass ich mich damals nicht mehr gemeldet habe. Vielleicht kann ich dir das alles einmal erklären. Weißt du, ich ...«
»Du brauchst nichts zu erklären. Die Sache ist Schnee von gestern. Hast du eine Neue?«
»Nein, ich muss mit der neuen Situation erst mal klarkommen.«
»Ja, verstehe.«
»Hast du am Wochenende schon was vor?«
»Samstag?«
»Ja, zum Beispiel.«
»Nein, ich hab nichts geplant.«
»Wollen wir uns treffen?«
»Können wir machen.«
»Soll ich bei dir vorbeikommen?«
»Von mir aus.«
»Bin so gegen acht da.«
»Okay!«
Bis zum Wochenende waren es noch drei Tage. Sie erschienen mir endlos. Die Arbeit quälte mich, und ich quälte mich durch die Arbeit. Ich versuchte, meinen Kollegen aus dem Weg zu gehen, und auch sie machten alle einen Bogen um mich. Was mir sehr entgegenkam. Ich war ihnen wohl zu fremd geworden, zu undurchschaubar.
Zweimal telefonierte ich in diesen Tagen mit Anna. Es fiel mir schwer, mit ihr zu sprechen. Nicht, weil ich traurig oder sentimental gewesen wäre, sondern weil es mir ungemein lästig war. Es ging um den Hausverkauf und um einige andere Fragen, die unsere Scheidung betrafen. Nichts davon interessierte mich. Allein Annas Stimme zu hören war mir schon unangenehm. Ich fühlte mich in eine Zeit und eine Rolle zurückversetzt, an die ich gar nicht mehr erinnert werden wollte. Aber unsere Trennung musste nun mal organisiert werden, also nahm ich mich zusammen und zwang mich dazu, sachlich und klar zu sein. Denn das war Anna auch. Wir hakten eine Frage nach der anderen ab, verteilten noch ein paar neue Aufgaben und waren uns in sämtlichen Verfahrensschritten einig. Wenn unser Haus bald einen Käufer finden würde, wäre in ein paar Wochen vielleicht alles erledigt. Während der Telefonate sprachen wir nie über Persönliches. Kein »Wie geht's dir?« oder »Was machst du so?« oder »Welche Pläne hast du?« - nichts! Ich wollte all das nicht von ihr wissen und sie wohl auch nicht von mir. Oder sie traute sich nicht, mir private Fragen zu stellen. Keine Ahnung. Ich meinerseits hatte nur ein Bestreben: Anna endgültig Vergangenheit werden zu lassen. Jeder Kontakt mit ihr schien mir widernatürlich. Für mich war sie tot.
Am Samstag musste ich noch bis mittags arbeiten.
Danach schlenderte ich ziellos durch die Stadt und aß eine Kleinigkeit bei einem Italiener. Wie sollte ich den restlichen Nachmittag verbringen? Ich war aufgeregt und hatte Angst vor der Begegnung mit Moritz. Wie würde er sich verhalten? War er mir wirklich nicht böse? Ob wir an unsere alte Vertrautheit würden anknüpfen können? Oder waren wir einander gänzlich fremd geworden?
Eines aber durfte auf keinen Fall passieren: Ich wollte nicht einen seiner Gedanken hören. Ich wollte ganz normal mit ihm sprechen, so wie früher. Ich wollte alles daransetzen, ihm unter keinen Umständen zu nahe zu kommen.
Ich ging zurück zu meinem Auto und beschloss einen kleinen Ausflug zu machen, in ein Waldgebiet, etwa vierzig Kilometer von der Stadt entfernt. Dort wanderte ich bis zum frühen Abend umher und fuhr dann direkt zu Moritz.
Er hatte sich äußerlich stark verändert. Früher war er ein recht
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