Der Gedankenleser
Erinnerung.
Ich sehe seine geballte Faust auf mein Gesicht zuschnellen, höre Jean hinter mir irgendetwas kreischen und falle lautlos von meinem Barhocker vor die Füße eines Fremden. Danach Filmriss.
Als ich wieder zu mir kam, saß ich in einem bequemen Plüschsessel, unweit der Bühne. Genauer gesagt, ich hing in dem Sessel. Jean und der Barkeeper hatten mich dorthin geschleppt und hielten mir Eiswürfel an die Stirn.
»Er ist weg, ich habe ihn rausgeschmissen«, sagte Jean. »Alles so weit in Ordnung?«
Ich checkte meine körperlichen Funktionen durch und sagte: »Alles okay. Vielen Dank. Jetzt noch einen Martini und dann geh ich nach Hause.«
FIora war die erste Prostituierte, die ich privat kennenlernte. Auch sie verkehrte regelmäßig im La Cage. Mir war aufgefallen, dass sie den Laden nie vor drei Uhr morgens betrat und immer ohne Begleitung kam. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig, sie hatte langes schwarzes Haar, blaue Augen, ein hübsches Gesicht und einen sinnlichen Mund. Zwar schien sie mit vielen Leuten bekannt zu sein, aber meistens saß sie allein an ihrem Tisch. Rauchte, trank Sekt und hielt ab und zu einen Plausch mit den La-Cage-Künstlern. Eines Nachts gab ich mir einen Ruck und fragte sie, ob ich mich zu ihr setzen dürfe.
»Das kannst du machen«, sagte sie und zeigte auf den freien Stuhl neben sich. »Aber ich bin nicht mehr im Dienst.«
Da mir Jean ein paar Nächte zuvor von ihr erzählt hatte, wusste ich sofort, welchen Dienst sie meinte.
»Darum geht es mir auch nicht«, antwortete ich. »Ich würde dich trotzdem gern zu einem Drink einladen.«
Er wirkt ganz nett. Etwas glasige Augen. Ob er besoffen ist?
»Ich nehme noch einen Piccolo«, sagte sie. »Und du, was trinkst du?«
»Ich schließe mich an! - Kellner, zwei Piccolo bitte! - Ich heiße übrigens Arne.«
»Und ich Flora. Du weißt, dass ich eine Hure bin?«
»Ja.«
»Und du? Was bist du?«
»Diese Frage stelle ich mir in letzter Zeit auch öfters«, antwortete ich und versuchte ein wenig zu lächeln.
Will er mich auf den Arm nehmen?
»Wie meinst du das?«, fragte sie.
»Nun, sagen wir es mal so, ich hänge momentan ziemlich in der Luft. Frau weg. Job weg. Haus weg. Aber es war meine eigene Entscheidung.«
Was will er von mir? Will er nur quatschen?
»Warum hast du alles aufgegeben?«
»Schwer in einem Satz zu sagen ... Vielleicht, weil ich endlich kapiert habe, wie kurz das Leben ist.«
»Wie kurz das Leben ist?«
»Ja. Es ist verdammt kurz. Selbst, wenn man sehr alt wird.«
Redet ja komisches Zeug, der Typ.
»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst«, sagte sie.
Ob er auf Drogen ist?
»Ich habe zu viele Jahre falsch gelebt - und diese Zeit ist unwiederbringlich verloren. Jetzt bin ich ein Suchender, was ich schon als großen Fortschritt empfinde. Aber ich weiß noch überhaupt nicht, welchen Weg ich einschlagen soll.«
Wie krass. Vor einer Stunde hing ich noch zwischen zwei Schwänzen, mitten in einem Dreier- und jetzt wird's philosophisch. Was soll ich denn darauf antworten? Bei mir läuft doch auch alles krumm ...
Ich merkte, dass ich sie in Verlegenheit gebracht hatte. Meine Offenbarung war wohl zu rasant erfolgt. Also lenkte ich schnell das Thema auf ihre Person.
»Arbeitest du schon lange als Hure?«
»Fast fünf Jahre jetzt.«
Drecksjahre waren das.
»Wie bist du dazu gekommen?«
Soll ich es ihm sagen?
»Hat sich so ergeben.«
»Einfach so?«
»Nein.«
Ich blöde Kuh, ich hätte Ja sagen sollen.
»Wie denn dann?«, bohrte ich nach.
Sie schwieg für einen Augenblick. Auch aus ihrem Kopf war nichts zu hören.
»Na gut, dann sage ich es dir. Aber halt bloß deinen Mund, sonst bekommst du Ärger. Es soll niemand wissen. Ich bin eine Junkie-Nutte. Sonst könnte ich mir das Zeug nicht finanzieren. Damals, als ich mit dem Gewerbe angefangen habe, war ich Kokserin, später kam dann noch Heroin dazu. Und so geht es bis heute. Bin ziemlich am Arsch.«
Mal sehen, wie er reagiert
»Keine Sorge, ich halt den Mund. Warum sollte ich irgendwem irgendwas von dir erzählen? - Hast du was gelernt oder zumindest einen Schulabschluss?«
Du denkst wohl auch nur in Klischees? Nutte gleich blöd - oder was?
»Ich habe Abitur. Mehr aber auch nicht.«
»Immerhin. Darauf ließe sich doch gut aufbauen. Warum machst du nichts aus deinem Leben?«
Ich muss morgen zum
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