Der Gedankenleser
Frauenarzt. Hoffentlich hab ich mir nichts geholt. Es juckt und brennt seit Tagen.
»Aus meinem Leben?«
Sie lachte verächtlich und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Ja, aus deinem Leben!«
Sie blickte in die Luft und blies den Rauch nach oben an die Decke.
Kann jeder etwas aus seinem Leben machen?
»Weißt du, mein Vater hat mich bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr grün und blau geprügelt. Dann ist das Schwein Gott sei Dank krepiert. Meine Mutter war Alkoholikerin. Auch sie hat er über Jahre geschlagen und misshandelt. Ich musste als kleines Mädchen oft dabei zusehen. Einmal hat er uns beide mit Benzin Übergossen und angezündet. Willst du noch mehr hören? Wohl kaum, oder? Ich jedenfalls will nicht mehr erzählen. Ein knappes Jahr nach seinem Tod kam meine Mutter in die geschlossene Psychiatrie, und da ist sie noch heute. Sie kennt mich nicht mehr.«
Ich war erschüttert und wusste überhaupt nicht, wie ich das Gespräch weiterführen sollte.
Was quatsche ich den zu? Mein Leben ist dem doch völlig egal.
»Das tut mir alles sehr leid«, sagte ich hilflos.
Niemandem tut etwas wirklich leid. Außer man ist selbst betroffen. Es gibt nur Selbstmitleid. Alles andere ist Lüge, Gefühlsduselei.
Und noch während ich über ihre Gedanken nachgrübelte, fragte sie mich:
»Und du? Was wird nun? Willst du dir eine neue Arbeit suchen? Kannst ja nicht den Rest deiner Tage oder Nächte hier im La Cage verbringen. Was bist du überhaupt von Beruf?«
Ach ... eigentlich auch egal.
Ich überlegte kurz, wie ich reagieren sollte - und entschied mich für die Wahrheit.
»Ich war Zeitungsjournalist und habe erst mal nicht vor, mir eine neue Arbeit zu suchen.«
Hast wahrscheinlich genug Kohle in der Tasche, dass du dir das leisten kannst.
Dann beging ich allerdings den Fehler, wahrscheinlich wegen meines Alkoholpegels und weil mich sowohl ihre Geschichte als auch ihre Gedanken verwirrt hatten, weiter von mir zu erzählen:
»Ich habe meine Frau nicht mehr geliebt. Und sie mich auch nicht. Unsere Ehe war tot. Na ja, und meine Arbeit - von außen betrachtet war es ein guter Job, aber ...«
Hoffentlich hab ich mir keine Chlamydien oder die Syphilis geholt.
»Ja, manchmal will man einfach nicht mehr«, sagte sie.
Ich aber kapierte immer noch nicht und quasselte weiter:
»Es war die Routine, das Desinteresse an den Inhalten meiner Arbeit, das Gefühl, im Grunde sinnlose Dinge zu tun, die Sehnsucht nach Freiheit, ja, auch die Herausforderung, sich der eigenen Angst zu stellen.«
Sie schaute mich schweigend an.
Du interessierst mich nicht. Überhaupt nicht. Du bist sicher kein schlechter Typ, aber dein Leben ist mir völlig egal, so wie dir mein Leben auch völlig egal ist.
»Komm! Jetzt lade ich dich ein«, sagte sie und bestellte zwei weitere Piccolos. »Lass uns über das La Cage sprechen! Wie fandest du vorhin die Show mit Lisa Lametta?«
16
Es gab eine Bar, die ich in jenen Wochen und Monaten fast ebenso oft besuchte wie das La Cage. Sie hieß Empire. Edel aufgemacht, aber etwas heruntergekommen. Gemischtes Publikum: leger, individuell, eher jung. Eigentlich bestand das Empire lediglich aus einer riesigen Theke, die mich an Hoppers »Nighthawks« erinnerte.
Mein Alkoholkonsum stieg in jener Zeit eklatant an. Früher hatte ich nie viel getrunken. Jetzt schon. Die Nächte und die Drinks gehörten einfach zusammen. Da ich in meinem früheren Leben wenig Exzessives getan hatte, empfand ich mein Verhalten nicht als bedenklich. Im Gegenteil. Ich machte eine neue Erfahrung, und die galt es nun auszuleben. Außerdem war ich froh über die enthemmende Wirkung des Alkohols. So kam ich schneller in Kontakt mit anderen Leuten. Ich trank allerdings nie so viel, dass ich nicht mehr Herr meiner Sinne gewesen wäre. Ich kann mich an alles und jeden gut erinnern.
Zum Beispiel an Carsten Neuried und Frau Scholzen. Beide lernte ich im Empire kennen.
Ich glaube, die meisten hier gucken mich an - oder sie tun so, als hätten sie mich nicht erkannt.
Das war der erste Satz, den ich aus Carstens Gehirn hörte. Und schon drehte auch ich mich nach ihm um und schaute ihn an.
Er saß neben mir, war wohl gerade erst gekommen und bestellte ein Budweiser.
Aha, der hier gafft auch.
Ich drehte meinen Kopf sofort wieder zur Seite.
Ich mach erst mal auf cool.
Er trank betont lässig aus seiner
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