Der Gedankenleser
gerecht zu werden. Ich würde da nicht von identifizieren sprechen. In Liebesgeflüster spiele ich den intriganten Schwiegersohn eines Hoteliers. - Was machen Sie denn so beruflich?«
Ich hatte keine Lust, mit ihm ein ernsthaftes Gespräch zu führen, geschweige denn, ihm die Wahrheit zu sagen. Also antwortete ich: »Bankkaufmann, ich arbeite am Geldschalter in einer Sparkasse.«
Ach, du Scheiße.
»Oh, wie interessant. Da kommen Sie ja mit vielen Leuten zusammen.«
»Ja, aber das ist nichts Besonderes.«
Glaub ich dir aufs Wort.
»Nein, so können Sie das nicht sehen«, sagte er. »Jeder Beruf hat doch was. Man muss nur das Beste daraus machen.«
»Genießen Sie Ihre Popularität?«, fragte ich ihn.
Genießen? Sie steht mir zu, ich hab sie mir verdient.
»Sie hat Vor- und Nachteile. Wenn ich zum Beispiel an der Flughafenkontrolle stehe und die Menschen mich anstarren, dann fühle ich mich schon oft alleine und ungeschützt.«
Mir kamen die Tränen.
Aber so ist das halt als öffentliche Person.
»Das glaube ich«, sagte ich. »Ruhm macht einsam.«
»Vielleicht. Und die Menschen nehmen einem alles übel«, ereiferte er sich. »Ich könnte Ihnen Sachen erzählen. Ein falsches oder unbedachtes Wort - und schon steht's am nächsten Tag in der Zeitung. Das ist unglaublich. Man ist doch auch nur ein Mensch.«
Ich halte verdammt nochmal jeden Tag mein Gesicht in die Kamera. Da hat man auch ein Recht auf sein Privatleben.
Er achtete gar nicht mehr auf mich. Er schaute mich zwar an, aber im Grunde durch mich hindurch. Ich war nur Staffage. Er textete mich zu. Es waren reine Schimpftiraden auf die Boulevard-Presse. Ich nickte hin und wieder oder sagte ab und zu »aha«. Nach einer Weile unterbrach er seinen Redefluss und trank von seinem Bier.
In spätestens zwei Jahren hab ich eine Hauptrolle beim Film. Und in fünf Jahren bin ich in Hollywood.
»Was sind Ihre Pläne und Träume? Wo wollen Sie hin?«, fragte ich ihn.
Er blickte mich erstaunt an und sagte: »Erst mal hat Liebesgeflüster Priorität. Und später würde ich gerne zum Theater gehen. Der Kontakt mit dem Publikum ist mir wichtig.«
Er nahm erneut einen Schluck.
Und irgendwann werden sie Straßen nach mir benennen.
Spätestens jetzt hatte ich genug.
Immer schon waren mir narzisstische Menschen unangenehm gewesen. Die meisten kaschierten diese Eigenschaft geschickt, und man konnte nur ahnen, was wirklich in ihnen vorging. Nun aber hatte ich die nackte Wahrheit ohne Filter gehört. Und war bedient. Ich wollte mich nicht mehr weiter mit Carsten Neuried unterhalten. Was hätte ich auch noch sagen oder fragen sollen?
Allein seine Anwesenheit verursachte mir körperliches Unbehagen. Ich fühlte mich förmlich von ihm benutzt.
Ohne weiter darüber nachzudenken, sagte ich etwas, was ich so direkt noch niemandem ins Gesicht gesagt hatte:
»Sie sind mir ausgesprochen unsympathisch. Ich habe keine Lust, weiter mit Ihnen zu reden. Ich werde jetzt gehen!«
Er war so baff, dass ihm zunächst die Worte fehlten. Auch aus seinem Kopf konnte ich nichts wahrnehmen.
Während ich allerdings das Geld für meine Getränke auf den Tresen legte, meldete sich die Stimme.
Der Typ ist wohl übergeschnappt. Der ist verrückt. Der hat nicht alle Tassen im Schrank.
Als ich schon vom Barhocker aufgestanden war, sagte er doch noch etwas. Aber ich konnte es nicht mehr verstehen.
Am Silvesterabend dieses für mich so ereignisreichen Jahres lernte ich im Empire Frau Scholzen kennen.
Aber der Reihe nach.
Silvester war für mich, im Gegensatz zum Heiligen Abend, seit jeher ein heikles Datum gewesen. Selbst während meiner Zeit mit Anna überkam mich am 31. Dezember stets eine heftige Melancholie, die nicht selten in einer tiefen Traurigkeit endete. Ich konnte dieser übermächtigen Flut von Gefühlen nie etwas entgegensetzen. Nahte das Ende des Jahres, so starrte ich gebannt, beinahe wie gelähmt auf den Kalender und wusste, was unausweichlich auf mich zurollen würde. Es gab kein Entrinnen, kein Ausweichen, keine kluge Strategie, mit dem magischen Datum umzugehen. Es gab nur eins: die Zähne zusammenbeißen und durch!
Tausend Gedanken und Erinnerungen sprudelten während der letzten Stunden des Jahres in mein Bewusstsein:
Die Silvesternächte, die ich als Kind und Jugendlicher mit meinen Eltern verbracht hatte.
Die Wehmut darüber, wie zerbrechlich und
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