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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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Leid und Verlust.
     

    Ich werd ihm nicht erzählen, was mit den Mädels passiert ist. Darüber möchte ich hier nicht sprechen. Obwohl er ja ein feiner Mensch ist. Ich wunder mich, dass er sich überhaupt mit mir abgibt und sich mit mir unterhält. Für all die anderen hier bin ich doch nur Luft.
     

    Wie sollte ich mich jetzt verhalten?
    Ich schaute auf meine Uhr, es war drei Minuten vor Mitternacht. In diesem Moment überwältigte mich meine alte Silvestermelancholie doch noch, und ich bekam Angst vor der kurz bevorstehenden Zäsur. Angespannt zog ich an meiner Zigarette, hoffte, dass das alte Jahr noch mindestens dreißig Minuten andauern würde, schwieg und wusste mit meinen Blicken nicht so recht, wohin.
     

    Er sagt nichts mehr. Vielleicht auch gut so. Wenn ich ihm erzählt hätte, dass Sonja und Conny ...
     

    Jetzt war ein dröhnendes Johlen von oben, aus der Bar, zu hören. Die Musik wurde lauter, und die Gäste, die gerade noch die Toiletten benutzt hatten, rannten aufgescheucht und hektisch nach oben. Es war null Uhr. Die heilige Zeit. Das neue Jahr hatte begonnen.
    »Dann wünsche ich Ihnen alles Gute«, sagte Frau Scholzen, stand auf und gab mir die Hand.
    »Ich Ihnen auch! - Ich finde, dass Sie eine sehr nette Frau sind! Sie haben es verdient!«
     

    So was hat schon seit Ewigkeiten keiner mehr zu mir gesagt.
     

    Frau Scholzen schaute mich verlegen an, bedankte sich, griff in ihre Schürzentasche, holte ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase.
    Wir setzten uns wieder hin.
    Schwiegen.
    Und dann überschlugen sich ihre Gedanken.
     

    Hab alle beerdigt. Mutter, Papa, Oma, Karl, die Mädels. Sechsundvierzig würden die beiden dieses Jahr. Im Leichenschauhaus damals. Karl ist nicht reingegangen. Im Raum hat es nach Ajax gerochen. Ich konnte mir nicht das Leben nehmen. Karl hat immer alleine im Keller geweint. Mutter hat nie wieder gelacht. Es gibt keine Gerechtigkeit. Was ein Mensch alles aushalten kann. Hätte Karl doch nicht so lange leiden müssen. Er hat sich immer vor mir geschämt, wenn ich ihn gewindelt habe. Schön war sein Sarg. Und unsere Hochzeit damals. So ein Fest. Wenn wir geahnt hätten, was auf uns zukommt. Die Geburt der Mädchen war so schwer. Du bist unsere Lieblingsmama, haben sie immer gesagt. Sogar der Pastor hat bei ihrer Beerdigung mit den Tränen gerungen. Die Musik. Der Herr ist mein Hirte. Ein Rosenmeer. Wie ihre Lehrerin am Grab ..., ach Gott, die Gräber. Karl kniete so lange. Niemandem die Hand geben können. Ich kriege keine Luft mehr. Komm, Kind, sagt Mutter. Aber meine Kinder da, in der Erde ...
     

    Ihre Gedanken wurden immer konfuser. Sie tat mir unendlich leid. Im Laufe ihrer sprunghaften Assoziationen erfuhr ich dann ansatzweise, was mit ihren beiden Töchtern geschehen war. Man hatte sie damals tot aufgefunden, am Rande eines Zeltplatzes oder in einem Zelt. Offensichtlich waren sie Opfer eines Verbrechens geworden. Aber sicher bin ich mir nicht. Frau Scholzen formulierte keinen einzigen Gedanken, der darüber konkret hätte Aufschluss geben können. Aber wie auch immer, der Verlust ihrer beiden Töchter war das größte Unglück ihres Lebens gewesen. Das hatte ich verstanden. Und verstehen oder zumindest erahnen konnte ich, obwohl selbst kinderlos, dass ein derartiger Schicksalsschlag niemals zu überwinden ist.
     

    »Hallo! Werden Sie dafür bezahlt, dass Sie vor sich hin starren? Hier bei den Weibern hat jemand gekotzt. Kümmern Sie sich mal drum! Ist ja ekelhaft!«
    Mit diesen barschen Worten riss uns eine elegant gekleidete junge Frau aus unserer Nachdenklichkeit.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Frau Scholzen, stand auf und ging in die Damentoilette.
     

    Schon gegen ein Uhr verließ ich das Empire.

17

    Noch wochenlang trieb ich mich nachts herum. Aber je mehr Zeit verging, desto weniger hatte ich Lust dazu. Ich war mutlos geworden. Wieder hatten die Menschen mich enttäuscht oder sogar abgestoßen, und meine Neugierde auf die wahren Gesichter hinter den Alltagsmasken schwand merklich. Es gab kaum mehr etwas Neues zu entdecken, so meine Einschätzung. Hinzu kam eine große Traurigkeit über das Leid auf der Welt. Zwar waren mir die meisten Personen, die ich getroffen hatte, gleichgültig bis unsympathisch gewesen, aber es gab doch auch immer wieder Menschen, deren Denken und Schicksal mir sehr zu Herzen ging. Frau Scholzen zum Beispiel behielt ich noch lange in meiner Erinnerung. Sie hatte ein so schweres Los. Niemand und nichts hätte sie

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