Der Gedankenleser
vergänglich alles ist.
Die Erzählungen über den Opa, den ich nie kennengelernt habe, der an einem Silvestertag in einem für mich so fernen Jahrhundert geboren worden war und dann in den Wirren des Zweiten Weltkrieges zuerst seine Beine und dann sein Leben verloren hatte.
Die Gewissheit, dass ein jeder letztendlich allein ist.
Die Sehnsucht meiner frühen Jahre nach der ganz großen Liebe.
Das Gefühl, so oft gescheitert zu sein.
Die Angst, das Leben zu verfehlen.
Die Verzweiflung darüber, dass vielleicht jedes Streben sinnlos ist.
Die Tränen, die ich als junger Mann beim Hören von Beethovens Neunter zum Jahresausklang vergossen hatte ...
Sonderbar war immer gewesen, dass ich die Stunde null, genauer gesagt die ersten Sekunden und Minuten des neuen Jahres, als äußerst intime Momente empfand. Ich verspürte sogar Scham und Widerwillen, sie mit anderen Menschen zu teilen. Besonders mit Fremden. Wurde ich dann auch noch umarmt oder geküsst, wäre ich am liebsten davongelaufen. Nur die Anwesenheit meiner Eltern früher hatte mir nichts ausgemacht. Im Gegenteil, sie krönte sogar noch die kurze heilige Zeit. Anna hingegen brachte mich immer in Verlegenheit, wenn sie mir innig über die Wangen streichelte und beispielsweise sagte: »Ganz viel Glück, mein Bärmann, das wünsche ich dir! Ein gutes neues Jahr!«
Nun war es also wieder so weit, und ich überlegte, wie und wo ich den Silvesterabend verbringen sollte. Schon am 30. Dezember bemerkte ich, dass sich mein Unbehagen vor dem Jahreswechsel diesmal in Grenzen zu halten schien. Und tatsächlich, auch am 31. war ich eher in gleichgültiger denn in angespannter Verfassung.
Am Silvestertag schlief ich zunächst lange, las dann noch ein paar Stunden im Bett und setzte mich am späten Nachmittag in mein Auto. Es war ein kalter, diesiger Wintertag, und immer wieder hatte es in den vorangegangenen Stunden ein wenig grießelig geschneit. Ich fuhr stadtauswärts auf einer breiten Landstraße und bewunderte das hübsche kleine Schauspiel auf der Fahrbahn. Der gefrorene Boden, der leichte Wind und die Zugluft der dahinfahrenden Autos ließen die feinen Schneekörner in alle Richtungen verwehen, und es entstanden für Sekunden lebendig wirkende Ornamente, die aber sofort wieder zerfielen und sich in andere bizarre Strukturen verwandelten. Ich hörte Cash und dachte an nichts Bestimmtes. Mein Leben kam mir in diesen Wochen ohnehin immer unwirklicher vor; und manchmal malte ich mir aus, wie ich gleich aufwachen und feststellen würde, dass ich alles nur geträumt hatte. Aber ich war froh, dass ich nicht aufwachte. Denn ein Zurück in meine alte Realität wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Daran gab es keinen Zweifel.
Während ich so durch die märchenhaft anmutende Winterdämmerung cruiste, beschloss ich, den Abend und den Jahreswechsel im Empire zu verbringen. Nicht ahnend, dass ich in der heiligen Zeit der Stunde null zwischen den Eingängen der nach Urinstein riechenden Damen- und Herrentoiletten sitzen würde.
Zur Feier des Tages hatte das Empire Frau Scholzen als Toilettenfrau engagiert. Vermutlich weil man einen großen Ansturm von Gästen erwartete und trotzdem die Sauberkeit der WC-Räume gewährleisten wollte. In der restlichen Zeit des Jahres war dort keine Reinigungskraft anzutreffen.
Die Toiletten befanden sich im Kellerbereich der Bar.
Gegen dreiundzwanzig Uhr kam ich an diesem unwirtlichen Ort mit Frau Scholzen ins Gespräch. Sie war knapp siebzig Jahre alt, zierlich gebaut, freundlich, hatte kurze, glatte graue Haare und trug eine unauffällige Brille mit dünnem Goldrand. Ich setzte mich zu ihr an einen kleinen Tisch, der zwischen den geöffneten Türen der Damen- und der Herrentoilette stand, und begann mit ihr zu plaudern. Einige der vorbeieilenden Gäste legten beim Verlassen des stillen Örtchens ein paar Münzen in die von Frau Scholzen bereitgestellte weiße Untertasse.
»Fällt es Ihnen nicht schwer, am Silvesterabend hier zu arbeiten?«, fragte ich sie.
»Ach nein, auf mich wartet niemand mehr.«
Es sind ja alle tot.
»Geht mir genauso. Ich lebe zurzeit auch alleine.«
»Haben Sie keine Frau oder Kinder?«
»Nein, weder Frau noch Kinder. Lebe in Scheidung.«
Scheidung ist ein Unglück.
»Oh, dann haben Sie es momentan bestimmt nicht leicht«, sagte sie. »Tja, aber hier ist man wenigstens unter Leuten.«
»Das stimmt«, erwiderte ich. »Und wie ist das bei Ihnen? Haben Sie
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