Der Gedankenleser
Kinder?«
Sie schwieg - und meine inneren Augen nahmen plötzlich ein intensives Grün wahr. Die alte Frau wurde traurig.
Das kann man ja alles gar keinem erzählen ...
»Nein«, sagte sie. »Ich habe ... ich bin ... ganz allein. Mein Mann und meine beiden Kinder sind verstorben.«
»Oh, das tut mir sehr leid.«
Ich darf jetzt nicht weinen. Ich muss mich zusammennehmen.
»Mich lenkt die Arbeit außerdem recht gut ab«, sagte sie.
Aber ich brauch das Geld ja auch so nötig. Ich kam sonst gar nicht über die Runden. Da hat man ein Leben lang gearbeitet ... und kann im Alter kaum die Miete bezahlen.
Es entstanden immer wieder längere Gesprächspausen, die jedoch kein Gefühl von Peinlichkeit aufkommen ließen. Wie selbstverständlich saß ich mit Frau Scholzen an dem kleinen Tisch, und zusammen beobachteten wir die vorbeigehenden Leute. Ich hatte meinen Kopf an die Wand gelehnt, etwas zu ihr hingeneigt - so konnte ich ihre Gedanken, die mich anzogen, gut hören, obwohl von oben, aus der Bar, die Musik auch nach unten schallte.
»Manche Leute hier sind recht hochnäsig«, sagte ich.
»Oh ja, sie kennen noch kein Leid.«
Zehn Jahre hab ich Karl gepflegt. Und dann sein letzter Atemzug in meinen Armen und die weit aufgerissenen Augen. Gestorben mit aufgerissenen Augen. Konnte sie ihm nicht schließen. Gingen immer wieder auf. So liegt er unter der Erde. Und starrt mich von unten an, wenn ich an seinem Grab steh.
»Wie lange leben Sie schon allein?«, fragte ich. Aber kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, meldete sich schon mein Gewissen. Vielleicht war die Frage zu indiskret, vielleicht würde sie zu sehr am Schmerz der alten Frau rühren. Aber ich konnte meine Worte nicht mehr zurücknehmen.
»Fünf Jahre«, sagte sie ernst.
Wie hab ich diese fünf Jahre bloß überstanden? Aber auch die Jahre davor? Es gab keinen einzigen leichten Tag. Aber der Herrgott lässt mich noch nicht sterben. Ja, wenn meine Mädchen noch bei mir wären. Dann hätte das Leben einen Sinn.
»Das ist eine lange Zeit«, erwiderte ich.
»Oh ja, aber jeder muss sein Schicksal tragen. - Wissen Sie, ich hatte zwei wunderbare Mädchen, Zwillinge. Ich denke oft an die Jahre, als die beiden noch zur Schule gingen. Ich glaube, das war die schönste Zeit meines Lebens. Wir haben so viel zusammen unternommen, mein Mann, ich und die Mädels ...«
Damals unsere erste Reise nach Italien mit dem kleinen Wohnwagen. Was waren wir alle glücklich. Das Meer. Die Sonne. Das schöne Essen. Und dann ein paar Jahre später ... diese Tragödie. Ich hab es nie überwunden. Nie. Karl auch nicht. Unser Leben war kaputt.
»Wie hießen denn Ihre Mädchen?«
»Sonja und Conny. Sie waren eineiige Zwillinge - selbst ich hatte manchmal Schwierigkeiten, sie auseinanderzuhalten. Die beiden haben uns ganz schön oft an der Nase herumgeführt. Da gab sich die eine mal als Sonja aus, aber es war Conny - und umgekehrt.«
Frau Scholzen lächelte still und schaute zu Boden.
Auch ich schwieg und lächelte ein wenig - muss aber gestehen, dass ich neugierig geworden war. Was hatte sie mit »Tragödie« gemeint? Was war den Mädchen zugestoßen? Hatten sie vielleicht einen Unfall gehabt? Oder waren sie beide an einer schrecklichen Krankheit gestorben?
»Sie haben Ihre Töchter sicher sehr geliebtl«, versuchte ich das Gespräch fortzuführen.
»Oh ja, mehr als mein eigenes Leben.«
Wenn ich mir ihre Angst in den letzten Minuten vorstelle. Herrgott, warum hast du das alles zugelassen? Warum hast du den beiden nicht geholfen? Sie waren doch noch so jung, so unschuldig ...
»Darf ich Sie fragen, wann Ihre Kinder verstorben sind?«
»Ja, das dürfen Sie. Es ist schon lange her. Sehr lange. Da waren die Mädchen gerade mal achtzehn. Aber was sind schon Jahre oder Jahrzehnte, wenn man trauert? Sie kennen doch bestimmt auch den Spruch ›Die Zeit heilt alle Wunden‹. Aber glauben Sie mir, das stimmt nicht. Es gibt Wunden - da kann keine Zeit der Welt etwas ausrichten.«
Ich überlegte, ob ich jetzt vielleicht doch fragen sollte, woran die beiden Mädchen gestorben waren und warum offenbar seltsamerweise zur selben Zeit. Aber ich traute mich nicht.
Was für eine Situation auch: Da saßen wir beide vor den Klosetts einer Bar, es roch unangenehm, es war laut, immerzu rauschten mehr oder weniger angetrunkene Gäste an uns vorbei, das Jahr stand ganz kurz vor seinem Ende - und wir sprachen über Trauer,
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