Der Gedankenleser
die mir besonders gut gefielen, von Hand ab und heftete die Zettel an die dicken Holzstämme meiner Zimmerwände. So hatte ich beispielsweise während meiner Mahlzeiten Schillers »An die Freude« und »Das verschleierte Bild zu Sais« vor Augen. Manche der Verse aus dem dicken Buch lernte ich sogar auswendig. Und so konnte es vorkommen, dass ich irgendwo an einer Flussschnelle saß und »Wanderers Nachtlied« laut rezitierte.
Die Lektüre der vielen und so unterschiedlichen Gedichte aus aller Welt, aus allen Epochen führte mir vor Augen, wie tief die Menschen schon immer empfunden, gelitten und geliebt hatten. So viel Glück, Sehnsucht, Angst, Verzweiflung und Einsamkeit spiegelte sich in den Werken wider. Im Grunde war ein jeder auf sich allein gestellt, ja, aber die Verse zeigten mir, wie viel Verbindendes es zwischen den Menschen doch gab. Und das konnte durchaus tröstlich sein. So hatte ich es früher nie gesehen.
Und dann war da noch die Musik. Genauer gesagt, Cash, Sinatra und ein paar alte Meister. Meine beiden amerikanischen Idole hörte ich nach wie vor nur im Auto, Cash fast immer, Sinatra nur noch selten. Ich hatte das Gefühl, er passte nicht mehr so recht in mein neues Leben, zumindest nicht in die Umgebung. Das war bei Cash ganz anders. Ich glaube, wenn der gute alte Johnny mit einem Sechziger-Jahre-Straßenkreuzer plötzlich vor meinem Blockhaus vorgefahren wäre, ich hätte ihn wie einen Bruder oder einen alten und guten Freund in meine Arme geschlossen. Und es wäre mir eine große Freude gewesen. Aber er lebte ja leider nicht mehr - und so musste ich mich mit seinen Liedern begnügen.
Vor meiner Abreise hatte ich mir ein tragbares und handliches Radio/CD-Gerät besorgt. Das stand jetzt' in meiner Hütte auf dem Esstisch und verwandelte meine bescheidene Unterkunft ab und zu in einen kleinen Konzertsaal. Je mehr ich übrigens zur Ruhe kam, je stiller es in mir wurde, desto lieber hörte ich die Werke von Bach.
Ohne die Musik und meine Bücher hätte ich das Leben in der Einsamkeit wohl nicht lange ausgehalten.
In der Vergangenheit hatte ich die Frage nach Gott nie endgültig für mich beantwortet. Ich war nie tief gläubig gewesen, aber auch zu keiner Zeit absolut ungläubig. Ich hatte herumspekuliert, vieles für möglich gehalten und nach immer neuen Denkmodellen gesucht. Irgendwann jedoch war ich des Themas müde geworden. Aus Ratlosigkeit, vielleicht aber auch aus Bequemlichkeit. Denn ich drehte mich im Kreis - und kam trotz aller Anstrengungen zu keinem für mich befriedigenden Ergebnis. Klar war mir jedoch schon sehr früh gewesen, dass weder die Bibel noch der Koran noch der Tanach Recht hatten. Wenn schon ein personaler Gott, dann bitte schön einer, der sagt: »Ich liebe dich, aber was geht es dich an!«
Die Antworten der großen Religionen waren mir entweder zu durchschaubar oder zu einfach. So konnte es nicht sein. Was jedoch nicht bedeutete, dass ich die Existenz einer Gottheit, eines höheren Wesens, einer anderen, uns weit übergeordneten Kraft rundheraus ablehnte. Wie aber soll man gedanklich etwas fassen, für das man nicht einmal einen Begriff hat?
Jetzt, in der Stille meines neuen Lebens, bemerkte ich, dass ich über all das wieder nachzudenken begann.
War ich früher daran verzweifelt, dass die Sprache mich zu keiner Einsicht führen konnte, so hatte ich nun das Gefühl, dass genau dieser Umstand vielleicht der Schlüssel zu den ganz großen Geheimnissen sein könnte. Man musste andere Wege gehen, jenseits der Sprache. Nur die ersten Schritte waren noch mit Worten zu beschreiben: Demut und Ehrfurcht.
Die Nacht vom 21. Juni auf den 22. Juni war eine große Nacht. Ich erlebte zum ersten Mal eine Sommersonnenwende. Und zwar auf der Kuppe eines knapp sechshundert Meter hohen, baumlosen Berges. Ganz allein. Es wehte ein leichter, milder Wind, und der Himmel war fast wolkenlos. Ich saß auf einem Felsvorsprung und konnte es nicht glauben, tief in der Nacht von der Sonne beschienen zu werden. Sie ging nicht unter. Sie zog lediglich ihre Bahn bis zum Horizont, und um zwei Uhr in der Frühe stand sie majestätisch am Nordhimmel. Das weite Land um mich herum lag in einem gelblich warmen Licht, und es war absolut still. Ich schaute auf endlose Wälder, auf Seen, Flüsse, Moore, Fjälle und kahle Bergrücken. Nirgendwo auch nur eine Spur von Zivilisation. Im Osten, ganz in der Ferne, die russische Taiga.
Und da hockte ich nun, ich kleiner Mensch, inmitten dieser
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