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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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Einsamkeit und des Fremden. Nach einigen Wochen allerdings befiel mich dieses bedrückende Gefühl nur noch selten. Mir war, als würde ich Teil der Natur werden, in der ich nun lebte; und somit verlor sie ihren Schrecken für mich. Auch die Angst vor wilden Tieren war bald vergessen. Zudem mein Vermieter, der Rentierbauer, mich ohnehin beruhigt hatte. Solange ich nicht zu weit allein in den Wald hineinginge, meinte er, könne mir nichts passieren. Die Wölfe und die Vielfraße seien sehr scheue Tiere, und die Bären würden noch Winterschlaf halten. Aber selbst im Frühling und Sommer gäbe es nie Probleme mit ihnen. Sie blieben stets tief in den Wäldern.
    Einmal allerdings, ich wohnte seit etwa drei Wochen in der Blockhütte, da schnellte ich nachts aus dem Schlaf hoch.
    Irgendjemand schlug an die Tür. Ich lag wie erstarrt im Bett, mein Herz war kurz davor, zu bersten, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. In unregelmäßigen Abständen war das Geräusch zu hören. Draußen stürmte es, und der Blick auf die phosphoreszierenden Zeiger meines Weckers verriet mir, dass es kurz vor drei Uhr war. Vielleicht befand sich jemand in Not, jemand, der sich im Wald verirrt hatte und dringend Hilfe brauchte. Oder jemand, der auf der Straße eine Panne gehabt hatte. Vielleicht war es aber doch ein Bär, der, irrsinnig vor Hunger, mich im Haus witterte. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes, etwas Übernatürliches, ein Spuk, ein Wesen aus einer für uns nicht fassbaren Welt. Immer wieder knallte es an die Tür. Himmel, was sollte ich tun? Und dann aktivierte ich meinen letzten Rest Mut. Ich stand tatsächlich auf, machte jedoch kein Licht an, und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Wieder ein heftiger Schlag gegen das Holz. Sonst aber war nichts zu hören. Kein Rufen, kein Stöhnen, keine Laute, die auf ein Tier hätten schließen lassen. Ich trat einen Schritt zur Seite, um durch die Scheibe eines kleinen Fensters, links neben der Tür, nach draußen zu lugen. Es war nichts zu sehen. Niemand stand davor. Kein Mensch. Kein Tier. Und dann nochmals ein Schlag - und für Zehntelsekunden nahm ich etwas wahr, einen Gegenstand. Genau in diesem Moment begriff ich. Am Abend zuvor hatte ich an einem Haken unter der Dachrinne, rechts über der Eingangstür, ein riesiges Elchgeweih provisorisch aufgehängt. Ich wollte es am nächsten Morgen ordentlich befestigen. Durch Zufall hatte ich es beim Durchstöbern eines kleinen Schuppens, der zu meinem Blockhaus gehörte, gefunden. Es sah so mächtig und archaisch aus, dass ich gleich in Begeisterung geraten war. So etwas durfte doch nicht in einem Schuppen verstauben, das gehörte über die Tür meines Hauses! Gedacht, getan. Und dann, als ich zu Bett gegangen war, hatte ich das Geweih draußen über der Tür vergessen. Durch den starken Wind war es im Laufe der Nacht immer wieder zur Seite gekippt und hatte so das bedrohliche Geräusch verursacht.
     

    Je länger ich in der Abgeschiedenheit lebte, desto besser passte ich mich dem Rhythmus der Natur an. Schneite oder regnete es, blieb ich in der Hütte, wurde es Nacht, so ging ich bald schlafen, und schon in den frühen Morgenstunden stand ich auf. So vergingen die Tage, Wochen, Monate. Die Landschaft verlor ihr weißes Kleid, wirkte zunächst schmutzig und erschöpft, um dann kurz, aber voller Intensität aufzublühen, und verwandelte sich danach vollends. Eigentlich war ich mittlerweile ein Eremit geworden. Es gab nur drei Menschen, mit denen ich ab und zu Kontakt hatte: Tuuli, der Bauer und die Verkäuferin im Lebensmittelladen. Ich benutzte kein Internet und bestellte mir auch keine Zeitungen. So weit hatte ich mich noch nie in meinem Leben von der Welt entfernt. Nur zwei- bis dreimal die Woche suchte ich zu ihr Kontakt. Dann nämlich schaltete ich meinen Weltempfänger ein und hörte die Nachrichten der BBC oder der Deutschen Welle. Danach war ich immer froh, das Gerät wieder ausschalten zu können. Die wenigen Informationen reichten mir völlig aus, mehr wäre mir lästig gewesen und hätte meine Ruhe gestört. Manche der Meldungen aber gingen mir zu Herzen. Ich war bestürzt über die Kriege, über das Leid und die Ungerechtigkeiten, von denen berichtet wurde. Je weiter ich mich aus dem Leben zurückgezogen hatte, desto kostbarer und einzigartiger erschien es mir. Und noch viel fassungsloser als früher war ich darüber, was der Mensch dem Menschen antat. Zügellos und ohne Tabus. Ich war so froh, von alldem entfernt zu leben

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