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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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Pick-ups in der Stille verloren hatten und ich allein vor meiner kleinen Hütte stand, etwa zweihundertfünfzig Kilometer nördlich des Polarkreises, inmitten einer grandiosen und menschenleeren Naturkulisse, da wusste ich: Du bist angekommen. Du hast es richtig gemacht. Hier beginnst du dein neues Leben.

19

    Schon nach knapp einer Woche erfüllte mich eine tiefe Ruhe. Ich war müde gewesen von der langen Reise und hatte viel geschlafen. Die ersten Nächte bis zu vierzehn Stunden. Die Tage verliefen friedvoll, und bald entwickelte sich eine wohltuende Routine. Ich hatte mir bei meinem Vermieter ein Paar Langlaufski ausgeliehen und machte täglich eine mehrstündige Tour durch die Wälder und über den zugefrorenen See. Danach las ich, kochte mir etwas, ging meistens noch einmal hinaus, mit oder ohne Ski, las wieder, und schon gegen zweiundzwanzig Uhr lag ich im Bett. So vergingen die Tage und schließlich die Wochen.
    Ab und zu fuhr ich in den kleinen Ort, um Lebensmittel einzukaufen und zu tanken, oder cruiste ein wenig durch die weiße Einsamkeit. Manchmal hielt ich auch auf einen Kaffee bei Tuuli, meiner Hausvermittlerin. Wir hatten uns inzwischen vorgestellt, und sie gab mir so manchen praktischen Ratschlag. Von ihr wusste ich zum Beispiel, in wie viel Kilometer Entfernung der nächste Geldautomat stand, welche Ski-Routen besonders interessant waren, wer meine defekte Schneekette reparieren konnte oder wohin ich fahren musste, um mir eine Flasche Wein zu kaufen. Denn in Finnland gibt es weder Wein noch Spirituosen in einem Lebensmittelgeschäft.
    Meine Gespräche mit Tuuli aber waren in der Regel kurz. Ich hatte kein Interesse daran, mich länger mit ihr zu unterhalten. Und das lag nicht an ihr, sondern an mir. Ich wurde immer scheuer. Beinahe von Tag zu Tag. Ich fand jede Unterhaltung anstrengend und war stets froh, danach wieder in meinem Auto zu sitzen und in Richtung Hütte fahren zu können. Ich verspürte auch kein Heimweh oder gar Sehnsucht nach meinem alten Leben. Nur die Gegenwart war von Bedeutung. So eine Stimmung kannte ich von früher nicht. Ich lebte in der Stille und schwieg den ganzen Tag, soweit ich im Ort nichts zu erledigen hatte. Meine Vergangenheit entfernte sich immer weiter von mir. Was ich schon sehr sonderbar fand. Es war doch noch gar nicht lange her, dass ich mit Großbogenbelt, mit Moritz oder auch mit Anna gesprochen hatte, dass ich durch meine Stadt gecruist war, Artikel über Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestags geschrieben hatte oder von den Gedanken eines Carsten Neuried abgestoßen gewesen war - und jetzt wohnte ich allein in den Winterwäldern Lapplands und hatte den Eindruck, als wären seitdem schon Jahre vergangen. Wie eine andere Wirklichkeit erschien mir mein vergangenes Leben. Das Geschehene wirkte entrückt und fast fremd. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass zeitgleich, während ich zum Beispiel am Fenster meines Blockhauses saß und die Wintervögel beobachtete, ein paar Tausend Kilometer südlich ein Alltag stattfand, wie ich ihn von früher kannte, und dass dort Personen leibhaftig agierten, die aus meinem Blickfeld vollkommen verschwunden waren. Die einzigen Menschen, an die ich oft dachte, waren meine Eltern. Wie hätten sie meine Entwicklung und meine jetzige Lage wohl beurteilt?
    Manchmal, wenn ich in der kalten Stille der Nacht noch einen kleinen Spaziergang über meinen erstarrten See machte und dabei in den berührend klaren Sternenhimmel blickte, schien es mir, als würden sie mich von oben beobachten. Als wären ein paar Sterne die Augen meiner Eltern. Das war ein gutes Gefühl. Aber dennoch kamen mir dabei immer die Tränen - und ich ging zurück ins Haus. Das Haus war überhaupt meine schützende Burg. Ich hatte mich bestens darin eingerichtet, fühlte mich, umgeben von den dicken Baumstämmen, aus denen es gebaut war, sicher und geborgen. Aber ich muss gestehen, dass mich in der ersten Zeit meines abgeschiedenen Lebens im Wald manchmal die Angst packte. Es war jedoch nicht die Angst, die ich von früher kannte. Hier ging es um mehr. Ich hatte Sorge, dass mich ein wildes Tier, ein Wolf, ein Bär oder ein Vielfraß, anfallen könnte - und ich spürte bisweilen eine tiefe Unheimlichkeit, wenn ich am Abend in die Schwärze des mich umzingelnden Waldes blickte. Wobei ich keine Furcht vor einem Überfall hatte, also vor Menschen, denn die gab es dort ja weit und breit nicht.
    Nein, es war wohl eine Urangst - vor den Mysterien der Nacht, der

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