Der Gedankenleser
und anderen Personen auch nicht im Geringsten einen Schaden zuzufügen. Ebenso froh, fast glücklich, war ich, mich den Menschen entzogen zu haben, nicht mehr ihren demaskierenden Gedanken ausgesetzt zu sein.
Ich hätte zuvor niemals geglaubt, dass ich mich in einem derart einsamen Leben so gut würde einrichten können. Die meisten meiner früheren Sorgen, all meine Aufgeregtheiten und mein Streben erschienen mir absurd und banal. Mein Geist war von so vielen sinnlosen Gedanken vereinnahmt gewesen, dass mir das Wesentliche verschlossen geblieben war. Nun aber, in der Stille, fernab des lauten Lebens der vergangenen Jahre, fernab der Menschen und ihres unaufhörlichen Geplappers, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass nichts und niemand mehr Macht über mich hatte. Und ich begann, all den Schmutz, den jeder falsche Kompromiss, jede Lüge, jede Eitelkeit, jeder Zorn und jede Gier in mir hinterlassen hatten, aus mir herauszuwaschen.
Als der Frühling gekommen war und die Temperaturen stiegen, saß ich oft über Stunden vor meiner Hütte auf einer Holzbank. Sie war gen Süden gerichtet, und ich hatte einen herrlichen Blick auf den See. Ich schaute den kleinen Wellen zu, atmete die nun milde subarktische Luft bewusst und mit Genuss ein, beobachtete Vögel und Wolken und freute mich, wenn ich in der Ferne am Waldrand einen Elch beim Grasen entdecken konnte. Es war eine ganz neue Erfahrung für mich, so lange einfach nur dazusitzen - ohne zusätzlich etwas zu tun. Früher hätte ich dabei gelesen, mit meinem iPod Musik gehört oder ein wenig gemalt. Nun aber genügte es mir, alles auf mich wirken zu lassen. Ja, jede weitere Tätigkeit hätte mich beim Wahrnehmen meiner Umgebung ohne Zweifel gestört.
Nachdem ich nun keine Ski-Wanderungen mehr machen konnte, ging ich fast jeden Tag zu Fuß los, soweit das Wetter mitspielte. Bis zu fünf Stunden war ich manchmal unterwegs. Das rhythmische und beständige Gehen hatte eine meditative Wirkung auf mich. Ich musste an die vielen Berichte denken, die ich früher einmal über das Pilgern gelesen hatte. Das, was ich nun tat, war nichts anderes als Pilgern in abgewandelter Form. Wenn ich bei schlechtem Wetter in meiner Hütte bleiben musste, kam es durchaus vor, dass ich auch dort rein gar nichts tat. Ich saß dann auf einer Eckbank und blickte nur hinaus. Ins Schneetreiben, den Regen oder den Nebel. Der Nebel übrigens faszinierte mich besonders. Ich empfand ihn wie ein riesiges, mir wohlgesinntes Lebewesen. Als wir einander zum ersten Mal begegneten, war es Anfang Mai. Das Eis auf den Gewässern rund um meine Behausung war bereits geschmolzen, und die Morgensonne schien kraftvoll in meine Schlafstube, die seeabgewandt in Richtung Osten lag. Ich stand an diesem Tag noch früher auf als sonst, öffnete die Tür zum Hauptraum der Hütte und blieb vor Erstaunen im Rahmen stehen. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen. Mir genau gegenüber befand sich ein großes Fenster, das beinahe den gesamten See zeigte. Von der Sonne hellrot und orange gefärbt, waberte über die Wasserfläche eine Nebelwolke. Mein Haus aber lag in vollkommen klarer Luft, nur der See schien eine magische Anziehungskraft auf den Nebel auszuüben. Auch in den Wäldern am Ufer war kein Dunst. Und so zog die bunt-milchige Masse mal nach rechts über das Wasser, mal nach links, mal nach oben und dann wieder nach unten. Ich stand in meinem kühlen Zimmer, schaute, staunte und vergaß darüber zu frühstücken. Erst nach gut einer Stunde verlor sich das Schauspiel in den Weiten des blauen Morgenhimmels.
Fast immer blieb der Nebel, wenn er mich besuchte, über dem See, nur selten legte er sich über das Land.
Das Lesen war neben dem Wandern und dem Nichtstun meine Hauptbeschäftigung. Gut, dass ich mir vor meiner Abreise in den Norden noch einige neue Bücher gekauft hatte. Denn in meinem Besitz war ja nur noch eine kleine Restbibliothek gewesen, die ich in zwei Reisetaschen verstaut hatte. Nun war eine ganze Menge neuer Lesestoff dazugekommen. Ein Buch schloss ich besonders ins Herz. Es war eine umfangreiche internationale Lyriksammlung. Alle Großen der Welt waren darin vertreten. Schon immer hatte ich ein Faible für Gedichte gehabt, früher aber fehlte mir oft die Muße, mich auf die Reime einzulassen. Das war jetzt ganz anders. Ich versenkte mich regelrecht in die kleinen Werke. Las sie mehrmals und immer wieder, verglich sie mit anderen Reimen aus derselben Epoche und schrieb mir einige,
Weitere Kostenlose Bücher