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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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Herrlichkeit, fühlte mich so unbedeutend - und doch so sehr dazugehörig. Es waren heilige Momente, die ich in dieser Nacht erlebte. Das kann ich ohne Übertreibung sagen. Es hatte mich etwas berührt, von dem ich vorher nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Bis etwa fünf Uhr morgens blieb ich auf dem Berg. Dann machte ich mich auf den Weg zurück zu meiner Hütte. Im Wald unten zwitscherten und sangen die Vögel.
     

    Obwohl ich so zurückgezogen und allein lebte, fühlte ich mich doch nicht einsam. Ich hatte weder Sehnsucht nach einem vertrauten Menschen noch das Verlangen, mir einen Menschen vertraut zu machen. Das war vor meiner Abreise in den Norden ja ganz anders gewesen. Die Einsamkeit hatte mich zu Moritz geführt und schließlich ins Nachtleben getrieben. Nun war ich mir selbst genug. Die Menschen, die in meinem Leben einmal eine Rolle gespielt hatten, verloren an Kontur. Meine Eltern ausgenommen. Alle anderen allerdings verblassten in meiner Erinnerung immer rascher. Das hatte etwas sehr Befreiendes, denn ich verknüpfte nun mit diesen Personen keine Gefühle mehr. Sie waren für mich zu neutralen Gestalten meiner Biografie geworden. Und so standen tatsächlich Anna, Großbogenbelt, Lars, Isabelle und sogar Moritz auf einer Stufe. Natürlich hatte sich an meinem Urteil über ihn nichts geändert, aber ich war nicht mehr verzweifelt darüber, dass ich mit meinem Wissen über ihn nichts anfangen konnte. Ich beobachtete zudem, dass mir altvertraute Regungen wie Ängstlichkeit, Ungeduld oder auch Ärger immer fremder wurden. Ein Gefühl allerdings blieb, ja es trat sogar noch viel facettenreicher in mein Bewusstsein, als ich es von früher kannte: meine Traurigkeit über das Unheil in der Welt.
     

    An einem schönen Sommermorgen beschloss ich, eine kleine Reise ans Nordmeer zu unternehmen. Für ein paar Tage. Gut zweihundertfünfzig Kilometer trennten mich von der nordnorwegischen Küste. Ich packte das Nötigste in mein Auto, sagte noch kurz meinem Vermieter und Tuuli Bescheid und fuhr los. Übrigens hatte ich einige Wochen zuvor mein Blockhaus für weitere vier Monate angemietet. Die Fahrt durch die kargen Landschaften in Richtung Meer verlief ruhig und ohne besondere Vorkommnisse. Nur wenige Autos waren unterwegs. Je näher ich jedoch der Küstenregion kam, desto belebter wurde die Straße. Als ich schließlich die E 6 erreichte, jene Route, die unter anderem zum Nordkap führt, glaubte ich plötzlich in einer anderen Welt zu sein. Busse über Busse fuhren dort, Wohnmobile, Lkws - und so viele andere Fahrzeuge, wie ich in den vergangenen Monaten zusammen nicht mehr gesehen hatte. Ich geriet in Stress und schien die anderen Verkehrsteilnehmer zu provozieren. Denn mittlerweile hatte ich mir eine so zurückgenommene Fahrweise angewöhnt, dass ich den Verkehr beinahe behinderte. Ich schlich gemächlich über die Europastraße und wurde ständig von hinten bedrängt. Entweder durch extrem dichtes Auffahren oder durch hektisches Lichthupen. Um das von mir angepeilte Ziel zu erreichen, musste ich allerdings eine Weile auf der E 6 bleiben. Ich war kurz davor, umzudrehen und mein Reisevorhaben über Bord zu werfen, hielt dann aber doch durch. Als ich endlich die vielbefahrene Straße hinter mir gelassen hatte, atmete ich auf. Der Verkehr war die erste Konfrontation mit dem »normalen« Leben seit so vielen Monaten gewesen. Wobei es auf der E6 sicherlich noch weitaus ruhiger zuging als auf den Hauptverkehrsadern in Deutschland und Mitteleuropa. Trotzdem war ich geschockt. Ich fuhr an den Straßenrand, stellte den Motor ab und blieb erst einmal eine Weile im Auto sitzen. Im Rückspiegel konnte ich das Treiben auf der E 6 noch beobachten. So eilig war die Welt? So aufgeregt? So aggressiv? Und so laut? Ich sehnte mich zurück in die Ruhe meiner Blockhütte, in den Wald, an meinen See oder auf meinen heiligen Berg. Was sollte ich jetzt machen? Wirklich sofort umkehren - oder doch noch die letzten Kilometer bis an die Küste fahren? Ich entschied mich für die Küste, denn eine Umkehr wäre mir wie eine überstürzte Flucht vorgekommen. Nach einer knappen Stunde war ich an meinem Ziel: einem kleinen Fischerort mit Blick aufs offene Nordmeer. Ich war erschöpft, und die Aussicht, nun nach einer Unterkunft suchen zu müssen, baute mich nicht gerade auf. Und in der Tat, es gestaltete sich schwierig. Allein der Kontakt mit den vielen und fremden Menschen zehrte an meinen Kräften und widerstrebte mir sehr. Ich war

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