Der Gedankenleser
nervös, fand kaum die richtigen Worte und wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich eine Unterkunft zu haben und dann allein ans Meer gehen zu können. Nach quälend langer Zeit und bestimmt einem Dutzend Versuchen hatte ich endlich ein Zimmer gefunden. Privat, bei einer älteren Frau. Ich bezahlte für zwei Nächte, brachte meine Tasche ins Haus, zog mich schnell um und ging sofort ans Wasser. Es war ein sehr windiger Tag, und die See tobte an die Felswände der Küste. Die Temperatur schätzte ich auf etwa fünfzehn Grad, der Himmel war stark bewölkt. Auf einem schmalen Wanderweg, der über die Klippen führte, ging ich in Richtung Norden. Zur Linken tief unter mir die wilde See, zur Rechten ein kahles, leicht gewelltes Land mit nur niedriger Vegetation. Meine Gefühle waren zwiespältig. Einerseits beeindruckten mich der Ozean und die maritime Stimmung, andererseits hatten mich die Erlebnisse auf der E 6 und die vielen Kurzgespräche während meiner Zimmersuche aus der Bahn geworfen. Hinzu kam, dass ich mich in dieser Umgebung fremd fühlte, fast ein wenig einsam. Wie sollte ich den Rest des Tages verbringen? Und den Abend? Und dann den nächsten Tag? Ich wanderte ernst über die Klippen, beobachtete ein paar Schiffe in der Ferne, stellte mir vor, dass Spitzbergen und der Nordpol gar nicht mehr so sehr weit von mir entfernt waren, dachte an die ersten Abenteurer, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert aufgebrochen waren, das ewige Eis des Nordens zu erkunden, fror etwas, da der Wind an Geschwindigkeit zugenommen hatte - und da passierte es: ein heftiger Schlag an meinen Hinterkopf.
Ich geriet ins Taumeln, konnte mich jedoch wieder fangen, schaute mich angsterfüllt um, sah zunächst nichts und niemanden, ließ meine Blicke kreisen und hörte schließlich von oben ein bedrohliches Schreien. Binnen Sekunden begriff ich und konnte es dennoch kaum glauben. Ich war von einer Riesenmöwe angegriffen worden! Und schon setzte sie zum zweiten Sturzflug auf mich an. Ohne lange zu überlegen, ging ich in die Hocke, wich ihr so haarscharf aus, drehte mich dann auf der Stelle um und rannte panisch zurück in Richtung Fischerdorf. Ich fühlte mich an Hitchcocks Die Vögel erinnert, hätte aber niemals für möglich gehalten, dass so etwas auch in Wirklichkeit geschehen könnte. Noch bestimmt fünfzig oder gar hundert Meter verfolgte mich das Tier. Zwar griff es mich nicht mehr an, aber es schrie wie in einem Kampf und zog seine Kreise über mir. Dann auf einmal war es ruhig, nur das Meer rauschte, und der Wind wehte mir in die Ohren. Ich blickte nach oben, in alle Himmelsrichtungen, von der Möwe keine Spur mehr. So plötzlich, wie sie zuvor aufgetaucht war, so plötzlich war sie nun wieder verschwunden.
Ich setzte mich für ein paar Minuten auf den Boden, versuchte den Vorfall zu verarbeiten und machte mich dann auf den Weg zu meiner Unterkunft. Die Verletzung am Kopf hielt sich in Grenzen. Ich desinfizierte die kleine Wunde. Mehr zu tun war nicht nötig.
Die Möwe hatte entschieden. An diesem Ort sollte ich jetzt nicht sein. Vielleicht ein anderes Mal.
Und so fuhr ich bereits am nächsten Tag zurück nach Finnland, in mein Blockhaus.
Der Angriff des Vogels hatte übrigens keinen mystischen Hintergrund gehabt. Nach Auskunft meiner Vermieterin war gerade Brutzeit, und offenbar hatte ich mich dem Nest der Möwe zu weit genähert.
20
Zehn weitere Monate gingen ins Land. Ich lebte ruhevoll und machte keine Ausflüge mehr in entferntere Gebiete. Ich blieb vor Ort. Der Rentierbauer freute sich über seinen Dauergast, Tuuli ließ mich ein wenig teilhaben an den Geschehnissen der Umgebung und der Gemeinde, die Jahreszeiten nahmen ihren Lauf. Und ich verlor fast mein altes Zeitgefühl. So anders konnte man also leben. Die Welt- und Deutschlandnachrichten hörte ich noch einmal pro Woche. Das genügte mir. An meinen ehemaligen Beruf und an meine einstige Ehefrau dachte ich gar nicht mehr. Genau genommen war meine gesamte Vergangenheit aus meinen Gedanken verschwunden. Ich beschäftigte mich nicht mehr mit ihr. Und auch der Fluch, der auf mir lag, verlor an Bedeutung, da ich ihn kaum noch bemerkte. Es war mir gelungen, mich ihm zu entziehen. Was einmal sein würde, wie sich die nächsten Jahre meines Lebens gestalten sollten - alle Fragen der Zukunft stellten sich mir nicht.
Ich war mir selbst so nahe wie niemals zuvor.
Noch öfter als während der ersten Monate meines Aufenthaltes in Nordfinnland ging ich
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