Der Gedankenleser
hinaus in die Natur. Selbst bei schlechtem Wetter, bei Sturm, starkem Regen oder Schneetreiben. Dabei wurde ich manchmal von Matti begleitet. Das war eine schöne Abwechslung. Matti hatte mich auf seine Weise in sein Herz geschlossen - und ich ihn auch. Er war einer der Mischlingshunde meines Vermieters. Irgendwann tauchte er das erste Mal vor meiner Hütte auf, und ich erkannte ihn sofort. Er stand nur da, bellte nicht, schaute zu meiner Tür, zu meinen Fenstern und wedelte etwas mit seinem buschigen Schwanz. Im Gegensatz zu anderen Hunden war er nicht sonderlich daran interessiert, gestreichelt zu werden, er wollte nur in meiner Nähe sein, und das auch nicht allzu oft. Einmal die Woche etwa verbrachten wir einen ganzen Tag miteinander. Entweder zog er mit mir los, in die Wälder, in die Tundra, an den See, oder er blieb bei mir im Haus. Ich fütterte ihn dann, gab ihm zu saufen, und stundenlang lag er zu meinen Füßen, schlief oder döste. Am Abend aber, wie von einer inneren Uhr gesteuert, kratzte er an der Tür, ich öffnete sie - und weg war er. Hatten wir eine lange Wanderung zusammen gemacht und waren in den Abendstunden noch unterwegs, bog er irgendwann plötzlich ab und verschwand in Richtung seines Heimathofes.
Uns verband eine kleine, stille Freundschaft.
Manchmal, wenn es das Wetter erlaubte, verbrachte ich eine dunkle, sonnenlose Nacht im Freien. Ausgerüstet mit meinem winterfesten Schlafsack suchte ich mir eine kleine Anhöhe, legte mich hin und beobachtete das Firmament. Der Polarlichter wegen. Ich kannte dieses magische Himmelsspiel schon von früheren Nordreisen. Ich war stets verzaubert gewesen, tief berührt und hatte erahnen können, wie übernatürlich und göttlich den Menschen in alten Zeiten diese Farbenpracht wohl erschienen war. Nun wusste ich als moderner Zeitgenosse zwar um die Entstehung und die Hintergründe der Nachtlichter, aber dennoch konnte ich mich ihrer geheimnisvollen Aura nicht entziehen.
Helle Strahlenbündel in Türkis, lila und Orange stießen aus der Schwärze des Himmels herab, drehten sich immer wieder um sich selbst, tanzten hin zum Horizont, wurden schwächer und blasser, verwandelten sich in wallende Schleier und wehten schließlich davon. Weiße, verschwommene Lichtbänder waberten von Westen nach Osten. Violette Schweife, gefolgt von lebendig wirkenden, ausgedehnten grünen Flächen, tauchten jäh aus der kosmischen Dunkelheit auf und verloren sich nach einiger Zeit wieder darin. Ein flammendes Rot im Westen ließ für Augenblicke vermuten, die ganze Welt dahinter stünde in Brand.
Ich lag reglos in meinem Schlafsack - und staunte.
Manchmal hörte ich aus der Ferne das Heulen der Wölfe.
21
Es war ein warmer Julitag, als ich schon um sechs Uhr in der Frühe zu einer längeren Wanderung aufbrach. Das heißt, zunächst musste ich mit dem Auto fahren, um zum Startpunkt der von mir ausgesuchten Route zu gelangen. Dieser lag nicht weit entfernt von Tuulis Café-Shop. Während der Fahrt dorthin kämpfte ich noch mit etwas Müdigkeit, freute mich jedoch schon sehr auf die bevorstehende Tour. Ich schätzte, dass ich, einige kleine Pausen mitgerechnet, etwa neun bis zehn Stunden für meinen Fußmarsch brauchen würde. Eine Zeitspanne, die mich nicht schreckte, da ich mittlerweile gut trainiert war und über eine solide Kondition verfügte. Als ich mein Auto abgestellt hatte und endlich losgehen konnte, lösten sich die letzten kleinen Wolken auf, und die Sonne stand klar am Himmel. Von Stunde zu Stunde wurde es wärmer, und gegen Mittag lag die Temperatur bei knapp dreißig Grad. Ein perfekter lappländischer Hochsommertag. Ich ging durch Birkenwälder, vorbei an Stromschnellen, einsamen Waldseen und über Hochebenen, die nur mit Zwergsträuchern und Moosen bewachsen waren. Kein Mensch begegnete mir. Dafür Myriaden von Mücken. Gott sei Dank aber hielten sich diese Plagegeister des Nordens fast immer von mir fern. Wie von Zauberhand gelenkt machten sie einen Bogen um mich herum. Nur ganz selten einmal stach eines der kleinen Tiere zu. Warum das so war, weiß ich nicht. Vermutlich roch ich ihnen nicht gut genug. Auf jeden Fall brauchte ich mich nicht täglich mit üblen Chemikalien einzusprühen, um sie von mir fernzuhalten.
Gegen siebzehn Uhr war ich wieder an meinem Auto. Ich fühlte mich erschöpft, aber gut, und beschloss, auf einen Kaffee zu Tuuli zu fahren. An schönen Sommertagen stellte sie stets ein paar Tische und Stühle ins Freie, und so
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