Der Gedankenleser
nahm ich gleich draußen Platz. Dort saß bereits eine finnische Familie mit zwei Kindern, die offenbar auf der Durchreise war, und ein alter Rentierbauer aus der Umgebung, den ich schon vom Sehen kannte. Tuuli bediente, was sie nur selten tat. Eigentlich musste man sich ja alles selbst an der Theke abholen. Aber heute war es eben anders. Ich bestellte Kaffee, Hefekuchen und eine Flasche Wasser. Der Hefekuchen war hausgemacht und schmeckte hervorragend. Ausnahmsweise fand ich es angenehm, unter Menschen zu sein, und genoss die friedliche und gelassene Stimmung vor Tuulis Haus. Zumal das Wetter nach wie vor nichts zu wünschen übrigließ. Die Spätnachmittagssonne hatte noch eine erstaunliche Kraft. Ich saß der kaum befahrenen Straße zugewandt, mit Blick zum gegenüberliegenden See und war äußerst entspannt. Nicht ahnend, dass in der nächsten halben Stunde etwas für mich Wegweisendes passieren würde.
Von weitem sah ich einen Wanderer den See entlangkommen.
Er ging auf einem schmalen Pfad, der auf die Straße und dann zu Tuulis Café führte. Ich nahm ihn zunächst nur als undeutlichen Fleck wahr, aber von Minute zu Minute schärfte sich seine Silhouette. Es schien ein großer, schlanker Mann zu sein, der einen mächtigen Rucksack trug. Ich trank von meinem Kaffee, ließ meine Blicke in alle Richtungen schweifen, blieb jedoch immer wieder an der langsam näher kommenden Gestalt hängen. In dieser Gegend tauchten nur selten Wanderer auf, und somit war das Erscheinen eines Fremden schon eine kleine Besonderheit, die sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Tuuli schaute hinüber zum See und ebenso der alte Bauer. Die finnische Familie hatte das Café inzwischen verlassen und war weitergefahren. Jetzt konnte ich den Mann besser erkennen. Er hatte blonde kurze Haare, trug ein rotes Halstuch und hielt in der Hand einen Wanderstab. Nach weiteren zehn oder fünfzehn Minuten war er an der Straße angekommen. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig, konnte ihn aber keiner Nationalität zuordnen. Vielleicht war er Mitteleuropäer, vielleicht aber auch Norweger oder Schwede. Er wirkte müde und hatte offenbar vor, die Straße zu überqueren und Tuulis Café anzusteuern. Genau das tat er dann auch. Er nickte mir zu und nahm an einem Nebentisch Platz. Seine Gesichtszüge erinnerten mich an den verstorbenen australischen Schauspieler Heath Ledger. Als Tuuli ihn nach seinen Wünschen fragte, gab er in perfektem Englisch seine Bestellung auf. Kaffee, zwei Sandwiches mit Käse und zwei große Flaschen Mineralwasser. Ich schaute mir sein Gepäck an. Es sah nach langer Wanderschaft aus. An dem prallgefüllten Rucksack hingen eine Blechtasse und ein kleiner Kocher. Wahrscheinlich war er schon eine ganze Weile in der Wildnis unterwegs gewesen. Der Zustand seiner Schuhe zeugte jedenfalls davon, ebenso das sonnengegerbte, unrasierte Gesicht.
Nachdem er gegessen hatte, rückte er seinen Stuhl etwas dichter an das Haus heran und lehnte den Kopf gegen die Wand. Er schloss die Augen, hatte sein Hemd etwas aufgeknöpft, die Beine auf einen zweiten Stuhl gelegt und ließ sich von der Sonne bescheinen. Der Bauer brach gerade auf, und Tuuli war im Haus verschwunden.
So saßen wir beide allein in der Stille des lappländischen Frühabends.
Meine anfängliche Neugierde auf den Fremden hatte sich wieder gelegt. Er war mir egal, und mit blinzelnden Augen verfolgte ich am Himmel den Schweif eines in sehr großer Höhe fliegenden Düsenjets.
»Where do you come from?«, hörte ich ihn plötzlich sagen.
Ich schaute erschrocken zu ihm hin, zögerte einen kleinen Augenblick und antwortete dann: »From Germany.«
»Das gibt's doch gar nicht! Ich hatte es mir beinahe gedacht!«, erwiderte er auf Deutsch. Und ich erschrak ein weiteres Mal. Denn dies waren die ersten in Deutsch gesprochenen Worte, die seit nunmehr sechzehn Monaten ein Mensch zu mir sagte.
»Ich bin Österreicher. Mein Name ist Boris!«
Er beugte sich herüber und gab mir die Hand.
Ich kann nicht eindeutig sagen, was in diesem Moment in mir vorging. Einerseits fühlte ich mich überrumpelt, denn ich hatte weder Kontakt noch ein Gespräch gesucht. Andererseits spürte ich einen kleinen, diffusen Reiz, mich nach so langer Zeit einmal wieder mit jemandem in meiner Muttersprache zu unterhalten. Aber ich war auch unsicher. Würde ich überhaupt zusammenhängend reden können? Meine langen Schweigephasen hatten mich verändert. Ich war es einfach nicht mehr gewohnt zu
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