Der Gedankenleser
formulieren. Schon die kurzen und eher sachlichen Gespräche auf Englisch mit Tuuli hatten mich so manches Mal Kraft und Überwindung gekostet. Aber da konnte ich mich immer gut hinter der fremden Sprache verstecken, sie war so eine Art Schutzschild zwischen mir und der Außenwelt. Und jetzt sollte ich auf Deutsch einfach drauflosreden?
Mir blieb wohl nichts anderes übrig.
»Und ich heiße Arne«, antwortete ich.
»Wie lange bist du schon hier?«, fragte er.
»Schon sehr lange. Weit über ein Jahr.«
Das ist ja Wahnsinn.
Und jetzt erschrak ich noch mehr. Ich hatte den Fluch vergessen. Da war sie wieder: die Stimme ! Nach so langer Zeit. Ich hasste sie sofort. Ich wollte sie nicht hören. Ich wollte sie nicht in meinem Leben haben. Und rückte gleich mit meinem Stuhl ein paar Zentimeter von dem Fremden weg. Er schien für Sekunden etwas irritiert.
»Über ein Jahr? Warum? Bist du ausgewandert - oder arbeitest du hier?«
»Nein, weder - noch. Ich bin sozusagen ein Langzeittourist, habe mir eine Hütte gemietet und lebe im Wald.«
Und dann unterhielten wir uns ein wenig. Ich erzählte von mir - und er von sich. Erstaunlicherweise fand ich ohne größere Mühe die passenden Worte.
Boris war seit drei Wochen in Lappland unterwegs. Zu Fuß. Er schlief in seinem Zelt, meistens weit draußen in der Wildnis, und war nur ab und zu, zum Proviantnachfüllen oder um auf einem Campingplatz zu duschen, in die Nähe von Menschen gekommen. Kennengelernt jedoch hatte er dabei niemanden.
An diesem Tag nun war er zum ersten Mal während seiner Reise in einen Café-Shop eingekehrt, eben bei Tuuli; und jetzt plante er, die nächste Zeit in dieser Gegend zu bleiben. Wahrscheinlich auf einem kleinen Campingplatz am Rande des Ortes, um von dort aus den großen See zu erkunden und Wanderungen in die benachbarten Berge zu machen.
Nach knapp einer halben Stunde beendeten wir unser Gespräch. Ich war nun doch etwas ermüdet von der ungewohnten Tätigkeit des Erzählens - und auch er schien sich zurückziehen zu wollen. Für mich war die Sache damit erledigt. Der erste Kontakt nach langer Zeit mit einem deutschsprachigen Menschen hatte funktioniert, ich war zufrieden. Aber jetzt freute ich mich sehr, wieder zurück in mein einsam gelegenes Haus fahren zu können. Als ich dem Fremden noch gute und schöne weitere Urlaubswochen wünschen wollte, sagte er: »Wir können ja vielleicht in den nächsten Tagen einmal eine gemeinsame Tour in die Berge oder woandershin machen.«
Ich war so überrascht von seinem Vorschlag, dass ich ihn nur schweigend anschaute. Wollte ich das: mehrere Stunden mit einem fremden Menschen verbringen? Hier in meiner neuen und für mich heiligen Heimat? Die ich mir erobert und erschlossen hatte und die mir alles bedeutete?
Ich fand ihn durchaus sympathisch, das konnte ich nach dieser ersten halben Stunde schon sagen, aber das war noch lange kein Grund, mit ihm in näheren Kontakt zu treten. Ich fühlte mich in meinem zurückgezogenen Leben ja wohl und war froh, mich von den Menschen erholt zu haben. Sollte ich mich jetzt schon wieder auf einen Menschen einlassen? Noch dazu auf einen deutschsprachigen? Warum? Und überhaupt, zu nahe kommen dürfte ich ihm auf keinen Fall. Ich wollte mit der verhassten Stimme nichts mehr zu tun haben.
»Du kannst es dir ja überlegen, möchte dich keineswegs bedrängen«, sagte er. »Ich werde in den nächsten Tagen so um diese Zeit hier immer mal wieder was trinken. Ist ja ein netter Laden. Wenn du Lust hast, kommst du ganz einfach vorbei.«
»Ja, so können wir es machen«, mühte ich mich zu antworten.
Wir reichten uns die Hände und gingen auseinander.
Auf der Rückfahrt zu meiner Hütte geriet ich ins Grübeln. Eigentlich war es gar nicht so schlecht gewesen, mit einer Person etwas länger zu sprechen. Und trotz meiner grundsätzlichen Menschen-Skepsis hatte ich nichts Unangenehmes an diesem Boris bemerken können. Im Gegenteil, er schien ein handfester Kerl zu sein, ohne Schnörkel und von herzlicher und freundlicher Art. Aber war er das auch wirklich? Was hatte ich nicht alles an Enttäuschungen erlebt in den Monaten vor meiner Flucht in den Norden. Wie sah es in seinem Inneren aus? War er ein ehrlicher, gar ein guter Mensch? Oder hatte er sich lediglich eine freundliche Maske übergestülpt? Welche Abgründe klafften in seinem Herzen? Warum suchte er Kontakt zu mir? Was wollte er von mir? Könnte er mir schaden? Was sollte ich mit ihm
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