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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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über mehrere Stunden reden? Würde er mich vielleicht schnell langweilen?
    Ich bemerkte, dass ich vor lauter Fragen vergessen hatte, Johnny Cash einzuschalten. Ein bedenkliches Zeichen. Also versuchte ich mich zu beruhigen, drückte schnell den Start-Knopf meines CD-Wechslers und erfreute mich an »Jackson«.
     

    Als ich schließlich vor meiner Hütte vorfuhr, hatte ich meine Ruhe zurückgewonnen.
    Die Dinge werden sich schon fügen, dachte ich, du wirst morgen oder übermorgen entscheiden, ob du ihn Wiedersehen willst - oder eben nicht.

22

    Wir sahen uns wieder. Am zweiten Tag nach unserer ersten Begegnung. Gegen achtzehn Uhr fuhr ich zu Tuuli - und tatsächlich saß Boris in der Abendsonne vor ihrem Haus und trank Kaffee. Er war der einzige Gast. Als er mich bemerkte, lächelte er, kam auf mich zu, gab mir die Hand und sagte: »Ich freue mich, dass du gekommen bist!« Und dann begannen wir eine langsame und vorsichtige Unterhaltung. Über das Land, den See, die wilden Tiere, die Ruhe, das Reisen.
    Ich hatte mich in gehörigem Abstand zu ihm hingesetzt, um zu verhindern, dass ich irgendetwas aus seinem Inneren erfuhr. Was auch bestens gelang. Im Gegensatz zu unserem ersten Gespräch war ich nun weniger angestrengt, sicherer und genoss es beinahe, zu sprechen und zuzuhören.
    Seit langem war mir kein Mensch mehr über den Weg gelaufen, den ich spontan so positiv beurteilt hatte. Aber konnte ich meinen Gefühlen und meiner Einschätzung trauen? Vielleicht hatte mich die lange Einsamkeit nicht nur scheu gemacht, sondern auch leichtgläubig. Vielleicht war ich tief in meiner Seele so begierig auf ein klein wenig Nähe und Vertrautheit zu einem Menschen meiner Sprache, dass ich über alle negativen Signale großzügig hinwegsah. Vielleicht würde alles in einer großen Enttäuschung enden und in mir den Widerwillen, ja den Ekel vor den Menschen neu entfachen. Ich hatte absolut keine Ahnung. Nun wäre es ein Leichtes gewesen, nur etwa dreißig Zentimeter dichter an Boris heranzurücken, um schnell und eindeutig zu erfahren, welch wahrer Kern in ihm steckte. Aber genau dagegen sträubte sich etwas in mir. Und das lag nicht nur an meiner grundsätzlichen Aversion gegen die Stimme, es hatte etwas mit dem Respekt zu tun, den ich von Anfang an für diesen Fremden empfunden hatte.
     

    Wir trennten uns nach etwa einer Stunde.
    Ich befand mich in gelöster Stimmung.
    Für den nächsten Tag hatten wir eine gemeinsame Bergtour verabredet.

23

    Bei dieser einen Tour blieb es nicht. Fast jeden Tag trafen wir uns nun, und entweder wanderten wir zusammen oder wir saßen bei Tuuli und unterhielten uns. Ich stand bisweilen richtiggehend neben mir und wunderte mich über mich selbst. Noch vor ein paar Wochen wäre mir ein solcher Kontakt absolut unvorstellbar gewesen. Jetzt aber war ich auf dem besten Wege, mich mit einem anderen Menschen anzufreunden. Wobei ich darüber kaum nachdachte. Ich ließ es geschehen und mich treiben und musste mir eingestehen, dass Boris' Interesse an meiner Person ein unverhofftes kleines Glücksgefühl in mir freisetzte. Wie lange hatte ich so etwas nicht mehr erlebt? Und wie lange war es her, dass ich mich in derartiger Weise für einen anderen Menschen interessiert hatte? Doch nach wie vor quälten mich Zweifel, ob meine Begeisterung nicht doch nur auf die vielen Monate abgeschiedenen Lebens zurückzuführen war. Vielleicht dürstete ich ja geradezu nach Kommunikation. Aber so einfach war es nicht. Ich hätte mich ja auch mit Tuuli, einer durchaus netten und sympathischen Person, eingehender unterhalten können. Auch wäre ein engerer Kontakt zu meinem Vermieter und dessen Familie möglich gewesen. Das hatte ich bald gespürt. Aber ich war allen diesbezüglichen Offerten aus dem Weg gegangen. Im Nachhinein kann ich sagen, dass es Boris' Persönlichkeit gewesen war, die meine Bereitschaft geweckt hatte, mich zu öffnen. Ein anderer wäre wohl kaum an mich herangekommen. Ich hätte die Kontaktaufnahme erst gar nicht zugelassen. Zudem verlief unsere Annäherung äußerst verhalten. Was genau das Richtige war. Wir bombardierten einander nicht mit Fragen und hielten uns zunächst auch mit allzu ausführlichen Erzählungen aus unserem Leben zurück. So kam es vor, dass wir während unserer Wanderungen über längere Strecken einfach schwiegen. Manchmal reichte dann ein Wink, ein Nicken, ein Schulterzucken oder ein Lächeln, um sich über irgendetwas zu verständigen. Das hatte ich schon immer am Umgang

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