Der geduldige Tod (German Edition)
suchte sie nach einem bestimmten Bild.
Victoria gab sich Mühe, nicht hinzusehen, doch es gelang ihr nicht. Die Fotos der verstümmelten Körper, grotesk geschminkten Gesichter und blutigen Kleider fanden ihren Weg in ihren Kopf und verzerrten sich dort zu Horrorbildern. Sie spürte, wie ihr Herz wieder zu rasen begann, sich ihre Kehle zuschnürte. Sie kniff sich in ihren Oberschenkel, um ihre Aufmerksamkeit statt auf die Bilder auf den Schmerz zu lenken. Die Kommissarin schien nichts zu bemerken. Oder sie tat so, als würde sie es nicht sehen.
»Hier.« Sie hatte gefunden, was sie suchte. »Sehen Sie das?« Sie reichte Victoria ein Foto von einer jungen Frau, deren Pupillen leer und tot waren, die roten Lippen leicht geöffnet, die Haut fahl und grau. »Das ist das erste Opfer, dem die Füße abgetrennt wurden. Sehen Sie den Lippenstift?«
Victoria nickte. Wie hypnotisiert starrte sie auf das Bild. Sie konnte sich nicht abwenden, jede einzelne Pore nahm sie wahr, das Blitzlicht, das sich in den leeren Pupillen spiegelte, ein Härchen aus der Nase der Frau, einen Mitesser an der Nase.
»Und nun hier. Ein Bild von dem Kopf, der bei dem Puppenmörder in Deutschland gefunden wurde. Mehr aussagekräftige Tatortfotos der Opfer gibt es leider nicht, da der Killer die Leichen später vergraben hat. Aber hier ist auch der Lippenstift vorhanden. Sehen Sie?«
Victoria nickte. Sie hatte ihn schon einige Male gesehen. Zuerst bei der Polizei, als sie ihre Aussagen machen musste, dann im Gerichtssaal. Sie würde diese Bilder nie wieder vergessen. Auch nicht die von dem Massengrab im Garten des Täters, in dem er die Leichen verscharrt hatte. Es war das schlimmste, was sie je in ihrem Leben ansehen musste.
»Erkennen Sie den Unterschied?«, bohrte die Kommissarin.
»Er ist dunkler.«
»Richtig. Er ist dunkler. Die Marke stimmt ebenfalls nicht überein. Wir haben das geprüft.«
»Das bedeutet, dass es ein anderer Täter ist, mehr nicht.«
»Nicht ganz. Darf ich mal Ihr Badezimmer benutzen?«
»Natürlich.«
Die Kommissarin verschwand aus dem Wohnzimmer, so dass Victoria allein mit den fürchterlichen Fotos zurückblieb. Es war wie ein Zwang. Sie wollte wegsehen und sich abwenden, aber sie konnte nicht. Ihre Hände griffen wie von alleine nach den Bildern, so dass sie die grausamen Details erneut betrachten musste. Durchtrennte Knochen, bloßliegende Sehnen, einzelne Ohren und ein Herz. Sie hätte sich gern übergeben, aber sie konnte nicht. Sie fühlte sich wie tot. Sie hatte fast das Gefühl, als wäre sie gar nicht hier, sondern würde alles aus der Entfernung betrachten.
»Tragen Sie keinen Lippenstift?«, fragte auf einmal die Kommissarin.
Victoria sah auf und schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.«
»Welche Marke haben Sie früher genommen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich bin nach der Farbe gegangen, nicht nach der Marke.«
»Könnte das Ihre Farbe gewesen sein?« Lucia Hernandez deutete auf die tote Frau vom Strand.
»Kann sein. Ich weiß es nicht.«
»Noch etwas.« Sie holte ein Foto von Gegenständen, die im Haus des Puppenmörders gemacht wurden. »Sehen Sie das Parfüm?«
Sie erinnerte sich plötzlich. »Ja. Er hat die Frauen kurz vor ihrem Tod damit eingesprüht. Das hatte ich ganz vergessen.«
»Riechen Sie mal.« Die Kommissarin hielt Victoria ihr Handgelenk hin.
Victoria beugte sich vor. Es war ihr Parfüm. »Haben Sie es benutzt, als Sie im Bad waren?«
»Ja, habe ich. Es ist zufällig das Parfüm, das unser Mörder auf die Toten gesprüht hat. Wir haben die Marke gestern herausgefunden.«
Victoria schluckte. »Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass es nicht dasselbe Parfüm ist wie bei dem deutschen Puppenmörder.«
»Ich habe damit nichts zu tun.«
»Ich weiß«, erwiderte Lucia Hernandez auf einmal. »Aber jemand will Ihnen eine Nachricht übermitteln.«
Ihr Atem rasselte auf einmal. »Das ist nicht wahr.«
»Doch, ist es. Es gibt drei gravierende Unterschiede bei den Morden. Erstens: Die Toten wurden nicht versteckt, sondern an Punkten abgelegt, an denen Sie waren. Zweitens: Der Mörder benutzt einen Lippenstift, der Ihrem ähnlich ist. Drittens: Er benutzt Ihr Parfüm.«
»Das muss ein Zufall sein.« Victoria hörte sich kaum, so leise sprach sie.
»Das mit den abgelegten Leichen, ja, möglich, dass das Zufall ist. Es waren bekannte Orte. Das mit dem Lippenstift ist relativ weit hergeholt, das gebe ich auch zu. Aber das mit dem Parfüm nicht
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