Der geduldige Tod (German Edition)
dass sie nach ihren Erlebnissen Angst hatte. Aber er hätte nie gedacht, dass sie ihm solch schreckliche Taten zutrauen würde. Er hatte gedacht, sie wäre wie er und würde die verwandte Seele erkennen.
Francisco sah sich um. Das Land lag fern und von einem feinen Dunstschleier verdeckt. Am Horizont gegenüber schwamm träge ein großes Containerschiff einem fernen Ziel entgegen. Ein paar vereinzelte Segelboote trieben in den Wellen, aber sie waren weit genug entfernt, um ihn nicht zu stören. Es war die perfekte Stelle.
Francisco holte das Segel ein. Dann nahm er ein Seil, das in der Kajüte in einem Schrank lag. Er prüfte es, ob es noch in Ordnung sei und nicht vielleicht morsch oder porös. Als er zufrieden war, kletterte er zurück an Deck. Der Wind hatte sich zurückgezogen, als wüsste er, was Francisco vorhatte und wollte kein Zeuge der Tat sein.
Francisco hievte den Anker, der an der Seite hing, auf das Deck. Dann befestigte er das eine Ende des Seiles daran. Das andere Ende schlang er um seine Taille.
Er sah sich ein letztes Mal um. Zum Land, in dem er aufgewachsen war, wo er so viele Jahre glücklich im Schoße seiner Familie gelebt und die letzten Monate so einsam und zweifelnd zugebracht hatte. Zum Meer, das er einst geliebt, aber das ihm alles genommen hatte, was sein Leben ausmachte. Zum Himmel, von dem er sich Linderung seiner Qualen versprach. Dann stieg er mit dem schweren Anker auf die Reling. Und sprang.
Das Wasser umschloss ihn in Sekundenschnelle. Der Anker zog ihn unaufhörlich in die Tiefe. Zuerst hielt Francisco die Luft an und sah, wie das Licht von oben langsam immer schwächer wurde, je tiefer er sank. Dann rangen seine Lungen verzweifelt nach Sauerstoff. Als der Anker auf einer Klippe des Meeresbodens ankam, hielten sie es nicht mehr aus und ließen ihn nach Luft schnappen. Doch nur Wasser strömte hinein. Einige qualvolle Augenblicke lang spürte Francisco die Verzweiflung seines Körpers, der sich gegen den Tod wehrte, doch dann gab er auf. Alles wurde still und ruhig. Ein sanftes Rauschen umgab ihn, und von oben strömte ein warmes Licht auf ihn herab. Da sah er sie, seine Schwester, seine Eltern, wie sie auf ihn zukamen und ihm freudig winkten. Er rief ihre Namen, während sein Körper leblos über dem Meeresgrund schwebte und die letzten Bläschen Sauerstoff seinen Lungen entwichen, sich mit dem Wasser vermischten, um in der Unendlichkeit des Meeres zu treiben.
Er war nicht mehr allein.
Victoria hatte keine Ahnung, wo sie nach Francisco suchen sollte. Es war nur ein Gefühl, dass er vielleicht auf dem Boot sein könnte. Sie hastete den Weg zurück, obwohl ihre Glieder schmerzten und der Schweiß in Strömen von ihrem Körper lief. Als sie am Yachthafen ankam, rannte sie den Steg entlang, bis sie vor dem leeren Platz stehenblieb, an dem sonst sein Segelboot lag.
Atemlos fragte sie jeden, der ihr begegnete, aber entweder verstanden sie sie nicht oder wussten nichts über Franciscos Verbleib. Erst als sie am gegenüberliegenden Kai mit einem Fischer sprach, der gesehen hatte, wie der junge Mann ausgelaufen war, wusste sie, dass sie Recht hatte. Es gelang ihr sogar, den Fischer dazu zu überreden, mit ihr in die Richtung zu fahren, die Francisco genommen hatte. Sie tuckerten eine Stunde über das Meer, viel zu langsam, wie Victoria fand, bis sie sein Boot entdeckten. Es trieb einsam auf den Wogen.
Der Fischer alarmierte die Küstenwache, und als diese dann den Anker mit dem leblosen Körper einholte, hätte Victoria am liebsten geschrien und nie wieder damit aufgehört. Doch sie tat es nicht. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Sie blieb still und weinte lautlos, bis sie in den Hafen zurückkehrten, wo die Polizei sie empfing.
Kommissarin Hernandez fuhr sie nach Hause und nahm das Päckchen mit dem Parfüm an sich, um es an die Spurensicherung zu geben. Victoria wollte es eigentlich gar nicht herausrücken, weil es vielleicht doch das letzte Geschenk von Francisco gewesen sein könnte, doch dann erinnerte sie sich, dass er es ihr nicht geschickt haben konnte. Sobald sie wieder allein war, verriegelte sie die Tür.
In der Nacht wollten ihre Tränen nicht trocknen. Sie wusste, dass sie für den Tod des jungen Mannes verantwortlich war. Diese Schuld lastete schwer auf ihrer Seele. Nun war sie selbst zu einem der Monster geworden, die Leben auslöschten.
Erst als sie am Morgen zu kraftlos für weitere Tränen war, fiel sie in einen unruhigen Schlummer.
Die einzigen
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