Der geduldige Tod (German Edition)
mehr.«
»Dann ist der Mörder jemand, der mich kennt.«
»Genau.«
»Aber wer?«
»Ich hoffe, das können Sie mir sagen.«
»Ich weiß es nicht.«
»Denken Sie darüber nach.«
Victoria nickte wie betäubt.
Die Kommissarin stand auf. »Wenn Ihnen etwas eingefallen ist, rufen Sie mich an oder kommen gleich ins Kommissariat.« Sie legte ihre Visitenkarte auf den Tisch. Dann packte sie die Fotos zusammen und ging.
Victoria blieb allein zurück. In ihrem Inneren herrschte absolute Leere. Völliges Schweigen. Sie saß lange da, die Augen starr auf die Tischplatte gerichtet, während ihr Hirn versuchte, aus den Informationen etwas Logik herauszufiltern. Er war wieder da. Jemand hatte es auf sie abgesehen. Das war unmöglich! Aber falls doch, wieso ausgerechnet sie? Was wollte er von ihr?
Konnte es nicht sein, dass die Kommissarin sich die Fakten zurechtlegte, damit sie auf Victoria passten? Verzweifelt klammerte sie sich an den Gedanken, einem großen Irrtum aufzusitzen. Einer ungeheuerlichen Verkettung von Zufällen, die ihr das Leben schwermachten.
Ihr Blick fiel auf das kleine Päckchen von Francisco, das unbeachtet in einer Ecke des Tisches lag. Mit klammen Fingern öffnete sie es. Ein Flakon fiel heraus. Parfüm. Ihr Parfüm.
Eine Nachricht dazu suchte sie vergeblich.
Er hatte ihr ihr Parfüm geschickt. Sie erinnerte sich, dass er auf dem Boot eine Bemerkung zu dem Duft gemacht hatte. Er wusste, welches Parfüm sie trug.
Sie sah auf die Visitenkarte der Polizistin. Gerade als sie das Telefon nehmen und die Frau anrufen wollte, klopfte jemand heftig an die Tür.
Victoria erschrak. »Wer ist da?«
»Ich. Bitte öffne! Bitte!«
Sie konnte kaum verstehen, was der Mann vor der Tür sagte. Es war eine Männerstimme, so viel konnte sie entnehmen. Sie klang auch vertraut, aber mehr erkannte sie nicht.
Vorsichtig öffnete sie einen winzigen Spalt und wich entsetzt zurück. Vor ihr stand Francisco. Sein Gesicht war blutig und geschwollen, die Nase gebrochen, sein linker Arm hing nutzlos, rot und aufgedunsen herunter. Er lehnte mit schmerzverzerrter Miene am Türrahmen.
»Was ist passiert?«, flüsterte Victoria, ließ ihn aber nicht in die Wohnung.
»Sie denken, ich sei der Mörder.«
»Ich kann dich nicht hineinlassen. Bitte geh, sonst werde ich die Polizei rufen.«
»Ich war es nicht! Bitte glaub mir doch.« Sein Ausdruck war flehend.
»Du hast alles gewusst, und du hast mir mein Parfüm geschickt.«
»Ich habe dir kein Parfüm geschickt. Ich habe niemanden getötet! Warum glaubt mir niemand?«
»Es tut mir leid, Francisco. Aber ich muss mich schützen.«
Sie schloss die Tür und lehnte verzweifelt den Kopf dagegen. Durch das Holz konnte sie hören, wie er langsam die Treppe hinunterhinkte.
Sie ging zurück in die Wohnung und blieb mitten im Wohnzimmer regungslos stehen. Ihre eigenen vier Wände kamen ihr auf einmal wieder wie ein Gefängnis vor. Die Welt da draußen schien ihr so fremd, so bedrohlich. Wenn sie zum Fenster hinaussah, wirkte der Sonnenschein wie ein strahlendes Gift. Das Brummen von Motoren auf der Bergstraße wie die Angriffe einer unbekannten Zivilisation. Sie stand lange da, unfähig, sich zu bewegen. Sie konnte noch nicht einmal eine Entscheidung treffen, was sie als nächstes tun sollte. Erst als ihr einfiel, was sie erledigen wollte, bevor Francisco aufgetaucht war, kam wieder Leben in sie.
Sie ging zum Telefon und wählte die Nummer der Kommissarin. Doch bevor sie die letzte Ziffer drückte, hielt sie inne und legte den Hörer wieder auf.
Er konnte es nicht wissen! Sie hatte es selbst vergessen, dass der Puppenmörder seine Opfer mit Parfüm eingesprüht hatte. Ihr war es erst wieder eingefallen, als die Polizistin es erwähnt hatte. Es war auch nie in den Presseberichten erwähnt worden, um eine Klage des Parfümherstellers zu vermeiden. Francisco konnte es nicht gewusst haben. Wenn er ihr das Parfüm geschickt hatte, dann nicht, um ihr eine Botschaft zu übermitteln, sondern um ihr eine Freude zu machen. Aber auch das war so gut wie unmöglich. Er hatte nie nach der Marke ihres Duftes gefragt. Er war wirklich unschuldig, wie er behauptet hatte. Jemand versuchte, ihn wie den Mörder aussehen zu lassen.
Victoria fühlte sich auf einmal erleichtert und nahm erneut das Telefon zur Hand. Dieses Mal wählte sie seine Nummer.
Doch er nahm nicht ab.
Auf einmal tat ihr unendlich leid, dass sie ihn davongejagt hatte. Er war zu ihr gekommen, weil er von ihr Hilfe erhofft hatte,
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