Der geduldige Tod (German Edition)
doch sie hatte ihm misstraut und ihn weggeschickt. Hoffentlich war ihm nicht noch mehr passiert!
Sie vergaß, dass die Welt da draußen ihr feindlich gesinnt schien. Oder sagen wir mal, sie versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen. Sie versuchte auch zu ignorieren, dass da draußen jemand Frauen tötete und auf perverse Weise sie in seine Taten mit hineinzog. Sie wollte Francisco helfen – das schien ihr in diesem Moment wichtiger als all ihre Ängste.
Als sie in die Wärme des Nachmittags trat, fühlte sie sich immer noch fremd und fehl am Platze. Sie nahm kaum noch das wunderschöne Panorama wahr, lief wie blind an den Hainen mit deren Blumenpracht vorüber. Sie eilte die Bergstraße hinauf zum Marktplatz, der bereits von den Ständen geräumt worden war und leer in der Hitze flimmerte. Dann bog sie in die Straße zu den Weinbergen ab. Ihre Beine eilten schneller, als ihre Lunge Sauerstoff pumpen konnte. Der Schweiß lief ihre Haut hinunter und durchtränkte ihre Kleidung. Als sie am Tor zu seinem Grundstück ankam, fand sie es offenstehend. Auf der Mauer daneben sah sie in großen, roten Lettern das Wort »Killer« prangen.
Sie lief hinauf zum Haus, wo sie den Laster fand, fahruntüchtig wegen der zerstochenen Reifen. Sie stieg die Treppen hinauf und klopfte an der Tür. Niemand öffnete. Als auch nach dem dritten Klopfen keine Reaktion erfolgte, eilte sie hinter das Haus zu den Obstbäumen. Eine Leiter lehnte am Aprikosenbaum, doch zu sehen war niemand.
Sie rief seinen Namen, aber er antwortete nicht.
Erneut klopfte sie an die Vordertür. Dieses Mal betätigte sie auch die Klinke. Die Tür gab nach.
Sie ging ins Haus hinein und rief abermals seinen Namen. Dann öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer. Ihr Blick fiel sofort auf den Tisch, auf dem noch bis vor kurzem das Frühstücksgeschirr der toten Familie gestanden hatte. Es war weggeräumt. Solange es sich auf dem Tisch befände, hätte er das Gefühl, sie seien nur kurz weg und kämen vielleicht später noch zurück, hatte er gesagt. Als könne er sie hier festhalten. Erst wenn der Tisch leer sei, würde es zur bitteren Gewissheit, dann wisse er, dass sie nie zurückkehren würden. Nun war der Tisch leer. Offensichtlich hatte er den Tod seiner Familie akzeptiert. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
An Stelle der Tassen lag ein Zettel auf dem Tisch.
»Victoria, Gottes Plan mag zuerst undurchschaubar und grausam sein, aber letzten Endes hat er Recht, auch wenn es schmerzt. Wenn du keinem Menschen mehr trauen kannst, dann vertraue darauf und du wirst Frieden finden wie ich. Leb wohl.«
Ihre Hand zitterte so stark, dass der Zettel aus ihrer Hand flatterte. Wo steckte er?
Francisco fühlte sich unendlich ruhig, als er mit dem Boot aufs Meer hinaussegelte. Es war die absolut richtige Entscheidung. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sich etwas richtig und gut an. Als hätte er nach langer Zeit in einem dunklen Gefängnis endlich das Licht des Tages gesehen.
Das Meer lag ruhig und blau, so friedlich und still, als könne es niemandem ein Härchen krümmen. Er sah die Sonne, wie sie in den feinen Kräuselungen glitzerte und funkelte, wie eine Straße aus Diamanten, die zum Horizont führte. Der Wind strich sanft und warm über seine Wunden, als wolle er sie streicheln. Es war schwer gewesen, das Boot mit nur einem gesunden Arm zum Auslaufen fertigzumachen. Als der Segelmast bei einer unbedachten Bewegung leicht an seinen zertrümmerten Wangenknochen schlug, hätte Francisco fast aufgeschrien. Er konnte nur noch auf einem Auge richtig sehen, das andere war zugeschwollen und vermutlich noch schlimmer beschädigt. Es schmerzte höllisch, als würden tausend Nadeln es durchstechen. Doch er hatte die Schmerzen ausgeblendet. So wie er auch die Blicke der Touristen und Bootsinhaber ignoriert hatte, die ihn verwundert angesehen hatten, als er auf sein Boot gehinkt war. Sein Knie war schwer lädiert, vermutlich ein paar Bänder gerissen. Er konnte es kaum beugen und jeder Schritt bereitete ihm unerträgliche Schmerzen. Doch auch das hielt ihn nicht auf.
Er beobachtete still, wie sich das Boot immer mehr vom Ufer entfernte. Bald lag der Ort nur noch wie ein Klecks auf dem schmalen Streifen Land in der Ferne.
Er dachte an Victoria, an die schönen Stunden mit ihr auf diesem Boot. Die Begegnungen mit ihr waren die einzigen Lichtblicke in diesen Monaten gewesen. Für sie hatte es sich gelohnt, aufzustehen und zu atmen, jeden Tag aufs Neue. Er konnte verstehen,
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