Der geduldige Tod (German Edition)
Nachmittags war sie nicht heim gekommen. Als sich der Abend herabsenkte, war ihr Stuhl am Esstisch leer geblieben. Rosaria wunderte sich natürlich, und Hector war ein wenig ärgerlich, weil gerade an diesem Tag besonders viel im Shop zu tun war. Aber Ana war nicht aufgetaucht. Und alle Anrufe auf ihr Handy wurden direkt zur Mailbox weitergeleitet. Rosaria rief schließlich den Sohn an, der im Dorf mit seiner Familie lebte und auf dem Markt traditionelles Kunsthandwerk anbot, das es auch im Shop zu kaufen gab, ob er wisse, wo Ana sei. Doch auch er war ratlos. Alle Mitglieder der Familie Guerres machten sich Sorgen, jedoch noch nicht ernsthaft genug, um die Polizei zu rufen. Auch am nächsten Tag tauchte Ana nicht auf. Dieses Mal fragte Hector auf die Bitte seiner Frau an der Uni nach, wurde jedoch unwirsch abgewimmelt. Was zur Folge hatte, dass die beiden eine weitere Nacht voller Ungewissheit um den Verbleib ihrer Tochter durchstehen mussten. Das Rätsel um ihr Verschwinden klärte sich erst am nächsten Morgen auf, als frühe Strandspaziergänger eine weibliche Leiche am Strand fanden. Ana lag halbnackt im Sand, ihre Füße fehlten. Seit diesem Morgen hatte Rosaria keine Stunde mehr ohne Tränen verbracht, und Hector hatte den Shop geschlossen, weil er es darin nicht mehr aushielt. Und weil er nicht mehr lächeln konnte. Seine schöne und kluge Ana war getötet worden, einfach so. Er wusste nicht, ob es ihm etwas Trost brachte, wenn er erfuhr, warum sie hatte sterben müssen. Aber auf jeden Fall wollte er wissen, wer es war, damit er dem Mörder das Herz herausreißen – oder ihm wenigstens seine Verzweiflung ins Gesicht spucken konnte.
Hector öffnete die Tür, als der Besuch klopfte. Er trug ein frisches Hemd und eine lange Hose, an den Füßen schlappten braune Pantoffeln. Sein Gesicht war traurig und ernst, als er Lucia Hernandez und Victoria hineinbat. Er führte sie in ein enges Wohnzimmer, das für den kleinen Raum viel zu viele Möbel aufwies. Eine rundliche Frau mit rot geränderten Augen eilte aus der Küche, in der Hand eine Kanne Tee haltend. Die Kommissarin hatte ihr Kommen angekündigt, so dass das ältere Ehepaar Zeit genug gehabt hatte, sich auf den Besuch vorzubereiten. Und da es ein Leben lang treu den Gesetzen gefolgt und noch nie negativ mit den Behörden in Berührung gekommen war, verhielt es sich auch nicht ablehnend der Polizei gegenüber.
Nachdem sich alle vier auf die Stühle rund um einen zerkratzten Esstisch gesetzt hatten, schenkte die Hausherrin Tee ein, dann ruhten alle Blicke auf Lucia Hernandez.
»Ich habe dieses Mal jemanden mitgebracht«, sagte die Kommissarin und deutete auf Victoria. Lucia Hernandez sprach Spanisch, übersetzte aber alles sofort ihrer Begleiterin.
Victoria versuchte ein mitfühlendes Lächeln. Sie kam sich wie ein Eindringling im Leid der Fremden vor, auf der anderen Seite wirkte die Trauer aber auch beklemmend vertraut.
»Victoria war selbst Opfer eines Serientäters und kann uns hoffentlich helfen, herauszufinden, weshalb er Ihre Tochter auserwählt, wie und wo er sie entdeckt hat, um ihn ergreifen zu können.«
»Inwiefern hilft Ihnen das?«, fragte Hector dazwischen.
»Wenn wir wissen, wo er sich aufgehalten hat, finden wir mehr Spuren von ihm, und vielleicht entdecken wir sogar seinen momentanen Aufenthaltsort.«
Der Mann nickte. »Verstehe.«
»Ich weiß, Sie haben mir das alles schon einmal erzählt, aber bitte wiederholen Sie es für Victoria. Wissen Sie, wo sich Ihre Tochter an dem Tag vor ihrer Ermordung aufhielt?«
»Sie ging zur Uni«, schluchzte Rosaria. »Sie kam immer gegen fünf nach Hause. Sie nahm den Bus in die Stadt.«
»Welche Linie?«
Die Frau nannte sie, und Lucia Hernandez nickte dazu.
»Wo war sie an der Uni?«
»Im medizinischen Institut.«
»Was hat sie sonst gemacht? Gearbeitet? Sich in Clubs mit Freunden getroffen?«
»Sie hat abends oft in unserem Laden ausgeholfen. Und an den Wochenenden machte sie Stadtführungen für Touristen.«
»Das heißt, sie hatte viel Kontakt zu Fremden.«
Die beiden nickten kläglich. Sie wussten, was das bedeutete.
Die Kommissarin blickte hilfesuchend zu Victoria, doch die folgte schweigend dem Gespräch. »Hat sie Ihnen vielleicht erzählt, dass sie das Gefühl hat, jemand würde sie verfolgen?«
Hector und Rosaria schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Ist Ihnen im Laden jemand aufgefallen, der öfter da war als gewöhnlich?«
Hector runzelte die Stirn beim Nachdenken, dann
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