Der geduldige Tod (German Edition)
sie kannte.
»Ronald?« Sie sagte den Namen zuerst leise, doch dann rief sie ihn laut. »Ronald!«
Doch der Mann kam nicht auf sie zu. Er wandte sich ab, ging zum Ausgang des Hofes und verschwand in der dunklen Kapelle.
Victoria rannte ihm hinterher. Durch den Lichtwechsel vom Hellen ins Dunkle konnte sie kaum etwas sehen. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an das fehlende Licht in der Kapelle. Als sie endlich wieder etwas erkennen konnte, war der Mann verschwunden. Sie lief weiter, eilte hinaus, um vor dem Kloster nach ihm zu suchen, aber sie entdeckte ihn nicht mehr. Nicht die kleinste Spur von ihm.
Aufgeregt wartete sie, dass die Polizisten ihr folgten, dann machte sie ihnen begreiflich, dass sie unbedingt sofort mit Lucia Hernandez sprechen müsse.
Die beiden Männer verfrachteten sie in den Polizeiwagen und fuhren mit ihr hinunter in die Stadt.
»Mein Exmann lebt!«, rief Victoria der Kommissarin entgegen, kaum dass sie deren Büro betreten hatte.
»Woher wissen Sie das?«, fragte diese, unwirsch aus dem Aktenordner aufblickend, in dessen Inhalt sie vertieft gewesen war.
»Ich habe ihn gerade gesehen. Er war am alten Kloster oben auf dem Berg.«
Die Kommissarin klappte die Akte zu. »Was hat er dort gemacht?«
»Keine Ahnung. Er stand da und sah mich an. Doch als ich ihn rief, lief er weg. Vielleicht dachte er, ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
»Oder er wollte vor Zeugen nicht mit Ihnen gesehen werden, weil er etwas anderes mit Ihnen vorhat.«
»Was sollte das denn sein?«
Lucia Hernandez überlegte für einen Moment, ob die Deutsche wirklich so naiv war, wie sie tat, oder ob sie vielleicht durch den versuchten Mord so schweren geistigen Schaden erlitten hatte, dass sie nicht mehr eins und eins zusammenzählen konnte. Doch dann sah sie ein Licht der Erkenntnis über Victorias Gesicht huschen. Oder eher einen Schatten der Erkenntnis.
Victoria traf der Verdacht wie ein Donnerschlag.
»Das kann nicht sein«, sagte sie entsetzt. »Das würde er nicht tun. Niemals.«
»Warum nicht?«
»Er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Niemals.« Die Vermutung war zu ungeheuerlich, als dass sie zutreffen könnte. Obwohl alles auf einmal einen Sinn ergab. Aber da musste irgendwo ein Fehler sein. Ein ganz, ganz großer Fehler in der Logik.
Die Kommissarin beugte sich zu ihr. »Er kannte Ihre Geschichte. Alles. Er wusste von dem Parfüm. Und er hat sogar ein Motiv.«
»Welches Motiv denn?« Sie sprach sehr laut, als könne sie damit den abwegigen Gedanken weit von sich weisen.
»Sie haben ihn verlassen. Das hat er nicht verkraftet.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Seine Mutter hat mir heute erzählt, dass er den Urlaub bräuchte, um endlich die Trennung zu überwinden.«
»Davon haben Sie mir gar nichts gesagt.« Neben Empörung schwang ein lauter Vorwurf in Victorias Stimme mit.
»Ich habe Ihnen vieles nicht erzählt. Zum Beispiel auch nicht, dass morgen jemand vom Festland herkommt, um die Untersuchungen in die Hand zu nehmen. Vielleicht bin ich dann meinen Job los, wer weiß. Auf jeden Fall werden die anderen Sie nicht so nett behandeln. Aber das muss ich Ihnen auch nicht erzählen. Also, berichten Sie mir von Ihrem Exmann.«
Victoria starrte sie für einen Moment entsetzt an, dann erzählte sie alles, was ihr über Ronald in den Sinn kam. Wie wunderbar er gewesen war, als sie sich kennenlernten, wie er sie auf Händen getragen hatte. Wie er sie nach der »Katastrophe« beschützen wollte, was jedoch immer mehr in eine Zwangshaft ausartete. Wie sie sich innerlich immer mehr von ihm gelöst und ihn dann verlassen hatte. Er hatte die Scheidung tatsächlich nicht gut bewältigt, daran erinnerte sich Victoria jetzt ebenfalls.
»Den einen Abend hat er geschrien und geflucht. Aber irgendwann dann aufgegeben und sich gefügt. Ich dachte, er hätte es nun verkraftet.«
»Offensichtlich doch nicht.«
»Wir wissen nicht, ob er wirklich der Mörder ist. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass er hier Urlaub macht. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er es getan hat. Was ist eigentlich mit Dr. Grabow, meinem ersten Psychiater?«
»Der bleibt weiterhin verschollen. Sehen Sie sich das noch einmal an. Bitte.«
Die Kommissarin nahm ein Päckchen aus einer Kiste, die an der Seite ihres Schreibtischs stand, und legte es vor Victoria hin. Es waren die Fotos von den Tatorten.
Victoria schloss für einen Moment die Augen. War sie stark genug dafür? Konnte sie sie betrachten, ohne Schweißausbrüche
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