Der geduldige Tod (German Edition)
und Angstanfälle zu bekommen?
»Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen«, sagte Lucia Hernandez leise, als hätte sie die Gedanken lesen können.
Victoria sah sie an und holte tief Luft. Dann nickte sie. »Fangen wir an.«
Die Kommissarin begann mit einem Foto der ersten Leiche. Victoria gab sich Mühe, sich völlig runterzufahren. Mühevoll blendete sie jede Gefühlsregung aus, unterdrückte jede unangenehme Empfindung. So nüchtern wie nur möglich betrachtete sie ein Bild nach dem anderen. Schließlich entdeckte sie etwas. In der Hand der Leiche, die im Weinberg gefunden worden war, steckte ein Schnipsel Papier.
»Was ist das?«, fragte sie atemlos.
»Es ist eine Ecke von einem Stadtplan. Er stammt von einem kostenlosen Infoblatt, die überall ausliegen. Das hat uns nicht weitergebracht.«
»So hat mich der Killer damals angesprochen. Er bat mich, ihm zu helfen, anhand des Stadtplanes die nächstgelegene Polizeistation zu finden, weil angeblich sein Auto gestohlen worden war. Das wussten auch nur wenige Menschen, mein Exmann inklusive.«
Sie zitterte wieder, aber dieses Mal nicht aus Angst vor dem Mörder, sondern über die Ungeheuerlichkeit dieser Erkenntnis. Er war es womöglich wirklich. Sie konnte sich allerdings nicht erinnern, ob sie Dr. Grabow jemals davon berichtet hatte.
Lucia Hernandez nahm ihre Hand, um sie zu beruhigen. »Meinen Sie, Sie könnten noch einen Schritt weitergehen?«
»Was meinen Sie?«
»Würden Sie mich vielleicht begleiten?«
»Wohin?«
»Ich will mit den Familien der Opfer sprechen. Sie könnten dabei helfen, herauszufinden, wo und wie er auf sie aufmerksam geworden ist. Dadurch erfahren wir vielleicht, wo er sich herumtreibt.«
Victoria zögerte.
Die Kommissarin drückte ihre Hand, bevor sie zum Telefon griff. »Überlegen Sie es sich. In der Zwischenzeit werde ich einen Haftbefehl ausstellen und ihn suchen lassen. Immerhin wissen wir jetzt, wie er heißt und wie er aussieht.« Sie lächelte und deutete auf die Akte, die vor ihr lag und in der sie gelesen hatte, als ihre Besucherin gekommen war. »Ich habe bereits Unterlagen über ihn anfordern lassen.«
Victoria verzog den Mund. Sie wollte es immer noch nicht glauben, dass Ronald, ihr Exmann, der Mörder sein sollte. Aber alles deutete darauf hin. Sie war sich allerdings nicht sicher, ob sie tatsächlich dabei helfen sollte, ihn dingfest zu machen. Sie wusste ja nicht einmal, wie sie es verkraften würde, mit den Familien der Opfer zu sprechen und deren Leid ansehen zu müssen.
Schließlich nickte sie. Das war ihre Chance, der Angst ein für alle Mal zu entkommen. Wenn sie das schaffte, hatte sie eine große Hürde überwunden. Schlimmer als das, was sie bereits erlebt und überlebt hatte, konnte es eigentlich kaum noch werden.
Der Plan
Hector und Rosaria Guerres lebten in einem Haus direkt am Strand. Im Erdgeschoss befand sich ein Souvenirshop, darüber ihre kleine Wohnung, in der die Essensgerüche der benachbarten Restaurants schwebten, in den Vorhängen hingen und die Tapeten färbten.
Die beiden besaßen nicht viel, ihren Unterhalt bestritten sie durch den Verkauf von Souvenirs, deren Erträge gerade für das alltägliche Leben reichten. Tag für Tag stand Hector in dem Laden, lächelte die Urlauber an und verkaufte ihnen Spielzeug, Kunsthandwerk und anderen Krimskrams. Im Winter, wenn die Touristen die Insel verlassen hatten, arbeitete Hector in der Werft und reparierte Schiffe oder entlud Container. Sein Rücken war nicht mehr ganz intakt, aber seine Familie zu ernähren, schaffte er immer noch. Umso stolzer waren er und seine Frau gewesen, dass ihre Tochter Ana die Aufnahmeprüfung für die Universität geschafft und ein Medizinstudium begonnen hatte. Damit das Mädchen eine Ärztin würde, dafür hätte Hector sogar sein letztes Hemd gegeben. Ana war klug und schön gewesen, sie hätte ohne Mühe einen gut verdienenden Ehemann gefunden, der sie und ihre zukünftigen Kinder ernährte, aber sie hatte von einem Leben als Ärztin geträumt. Und diesem Traum wollte Hector Guerres auf keinen Fall im Wege stehen.
Ana lernte fleißig und schaffte mühelos die Zwischenprüfungen. Nebenbei arbeitete sie an den Wochenenden als Stadtführerin, um sich die teuren Bücher und Semestergebühren leisten zu können. Doch jeden Tag fuhr sie nach Hause, um zu büffeln, den Eltern den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Stadt mitzuteilen oder für ein paar Stunden im Souvenirshop auszuhelfen. Doch eines sonnigen
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