Der Gefangene der Wüste
geschehe … es ist nicht so: Der Himmel stürzt nicht ein! Die Sterne bleiben dort, wo sie funkeln, und morgen früh scheint wieder eine Sonne. Komm mit –«
Er rollte an ihr vorbei auf den Gang und dann durch die langen, halbdunklen Flure bis zu Zimmer 45.
Saada folgte ihm, die Fäuste gegen den Mund gepreßt –
Eine Stunde später fuhr Dr. Bender hinauf zu Scheich Achmed. Die Zeit, die er im Kasino gewartet hatte, war grausamer gewesen als das Grab, in das ihn Achmed einmal eingeschlossen hatte. Und plötzlich war er aufgesprungen und hatte den beiden übermüdeten Ärzten, die ihm Gesellschaft leisteten, in die erstaunten Gesichter geschrien: »Ich bin kein Feigling! Nein. Ich bin es nicht!«
Scheich Achmed war allein, als Bender ins Zimmer stürzte. Er lag wieder im Bett und aß dicke, blaue Trauben. »Was wollen Sie noch hier?« fragte er, als Bender das Bettgestell umklammerte. »Rütteln Sie nicht so … ich kann das nicht vertragen.«
»Wo ist Saada?« keuchte Bender. »Ali, ich muß mit ihr sprechen. Ich will alles erklären! Wo ist sie?«
»Fort.« Achmed betrachtete die halb abgegessene Traube und hielt sie hoch. »Sie läßt Ihnen sagen, daß sie Sie nie wiedersehen will –«
»Das ist nicht wahr!« brüllte Bender. »Ali, ich vergesse, daß ich Arzt bin, und schlage Sie so lange, bis Sie mir sagen, wo Saada ist!«
»Was hätte das für einen Sinn? Ich habe sie zu Cathérine geführt … und nun ist sie weg. Verschwunden für immer … für Sie! Wollen Sie es lesen? Dort liegt etwas.« Er zeigte mit der Traube auf den Tisch an der Wand. Bender riß einen Zettel von der Decke und trat unter die Lampe.
Es war Saadas kleine, kindliche Schrift, und sie hatte französisch geschrieben, mit sichtlicher Mühe, aber mit einer erschütternden Tapferkeit.
»Adieu – mon coeur –«
Bender faltete den Zettel und steckte ihn stumm in seine Tasche. Plötzlich war alles um ihn herum wie ein leerer Raum, wie eine Welt ohne Wesen, ohne Laute und ohne Formen. Er senkte den Kopf und ging hinaus und tappte durch das große, nachtstille, leere Haus, über Flure und Treppen, bis ihn der Nachtarzt anhielt und in eine Richtung zeigte.
»Dort, Dr. Bender –«
Er gehorchte, ging in das Zimmer und setzte sich an das Bett. Dann nahm er die bleiche Hand, die auf der Bettdecke lag, zwischen seine Finger, und so blieb er sitzen, bis der Morgen in das Zimmer flutete und sich die Hand in seiner Hand rührte.
»Du bist da –«, sagte eine schwache Stimme durch die Verbände.
»Ich bin immer da«, antwortete er leise und beugte sich über den verbundenen Kopf. »Immer, Cathérine –«
Nach zwölf Wochen wurde Cathérine entlassen.
Ihr Gesicht war hübsch wie immer, nur zwei Narben im Nacken und über der Stirn störten, aber sie würden in einem Jahr kaum noch sichtbar sein. Wie ihr Körper unter dem Kleid aussah, das wußten nur die Ärzte und Dr. Bender … aber auch hier würde die Zeit helfen, gab es Transplantationen, konnte die kosmetische Chirurgie vieles wieder ausgleichen.
Auch die seelische Krise Cathérines war vorüber. Als sie sich zum erstenmal wieder nackt im Spiegel des Badezimmers gesehen hatte, wollte sie sich aus dem Fenster stürzen. Dann zerschlug sie ihren kleinen Kosmetikspiegel und versuchte sich mit den Scherben die Pulsader aufzuschneiden. Ihr Drang zur Selbsttötung wurde so wild, daß Dr. Bender Tag und Nacht bei ihr im Zimmer blieb und alle Kraft brauchte, sie über diese Krise zu führen.
»Was willst du hier?« schrie ihn Cathérine an und schlug auf ihn ein. »Ich brauche kein Mitleid! Ich bin ein Krüppel! Willst du in Fleischhöhlen liegen, wenn du mich liebst? Laß mich sterben, du Hund, laß mich doch sterben! Ich spucke dich an, wenn du mich anfaßt! Ich brauche deine Moral nicht! Ich weiß, wie ich aussehe … warum ekelt es dich nicht, eine Ruine zu lieben? Bist du so pervers, dich an einem zerhackten Körper aufzugeilen?«
Es half alles nichts … nach diesen Ausbrüchen weinte sie wie ein kleines Kind und verkroch sich in die Arme Benders. Für Stunden war sie glücklich, daß er bei ihr saß, bis es wieder aus ihr herausbrach, vulkanhaft, und ihr Elend sich über ihn ergoß wie glühende Lava.
Aber auch dieser Zustand ging vorüber. Die großen Wunden heilten ab, die Transplantate wuchsen ein, und wenn sie ein hochgeschlossenes Kleid trug, war sie hübsch und wohlgeformt, denn ihre Brüste waren unverletzt geblieben und die tiefen Kratzer in den schlanken Beinen
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