Der Gefangene
Wand montiert, nur für den Fall, dass es in letzter Minute etwas Neues von der juristischen Front gibt oder der Gouverneur seine Meinung ändert und die Hinrichtung aufschiebt. In den letzten Jahren hat immer ein Geistlicher in der anderen Ecke gestanden und während der gesamten Hinrichtung aus der Bibel vorgelesen, doch inzwischen ist er in Pension.
Der Gefängnisdirektor tritt vor und fragt den Verurteilten, ob er noch etwas zu sagen habe. Die meisten schweigen, doch manchmal bittet jemand um Vergebung, beteuert seine Unschuld, betet oder erhebt wütende Anschuldigungen. Einer hat ein Kirchenlied gesungen. Einer hat dem Direktor die Hand gegeben und ihm, seinen Mitarbeitern und dem gesamten Gefängnispersonal dafür gedankt, das sie sich während des langen Aufenthalts so gut um ihn gekümmert haben.
Die letzten Worte des Verurteilten dürfen höchstens zwei Minuten dauern, doch bis jetzt hat man noch nie auf der Einhaltung dieser Regel bestanden.
Die Todeskandidaten sind immer völlig gefasst und ruhig. Sie haben ihr Schicksal akzeptiert und viele Jahre Zeit gehabt, um sich auf diesen Moment vorzubereiten. Viele sind froh, dass es endlich so weit ist. Sie wollen lieber sterben, als noch einmal zwanzig oder dreißig grausame Jahre im H-Trakt verbringen zu müssen.
In einem kleinen Raum hinter der Liege verstecken sich die drei Henker. Sie dürfen nicht gesehen werden. Ihre Identität ist sogar den Gefängnismitarbeitern nicht bekannt. Es sind keine staatlichen Mitarbeiter, sondern Freischaffende, die vor Jahren von einem ehemaligen Gefängnisdirektor beauftragt wurden. Ihre Ankunft in McAlester und ihr Verschwinden nach einer Hinrichtung sind immer sehr geheimnisvoll. Nur der Gefängnisdirektor weiß, wer sie sind, woher sie kommen und wo sie sich ihre Chemikalien beschaffen. Er zahlt jedem von ihnen dreihundert Dollar in bar für eine Hinrichtung.
Die Infusionsschläuche im Arm des Verurteilten führen nach oben und verschwinden durch zwei je fünf Zentimeter große Löcher in der Wand in dem kleinen Raum, in dem die Henker ihre Arbeit tun.
Wenn die Formalitäten erledigt sind und der Gefängnisdirektor sicher ist, dass es nicht doch noch einen Anruf in letzter Minute gibt, nickt er, und die Injektionen beginnen. Zuerst wird eine Kochsalzlösung durch die Schläuche gepumpt, um die Venen zu öffnen. Die erste Chemikalie ist Thiopentalnatrium, das den Verurteilten schnell bewusstlos werden lässt. Eine zweite Spülung mit Kochsalzlösung folgt, dann wird mit der zweiten Chemikalie, Vecuroniumbromid, die Atmung lahmgelegt. Nach einer weiteren Spülung führt die dritte Chemikalie, Kaliumchlorid, zum Herzstillstand. Der Arzt kommt herein, führt eine kurze Untersuchung durch und stellt den Tod fest. Die Jalousien werden heruntergelassen, und die Hinrichtungszeugen, von denen viele sehr aufgewühlt sind, verlassen schweigend den Raum. Die Liege wird hinausgerollt, die Leiche in einen Rettungswagen gehoben. Falls die Familie keine Vorkehrungen für eine Übergabe getroffen hat, wird sie auf einem Gefängnisfriedhof bestattet.
Vor den Toren des Gefängnisses halten zwei Gruppen zwei sehr unterschiedliche Mahnwachen. Die Mitglieder der Homicide Survivors, einer Selbsthilfeorganisation, die Hinterbliebene von Verbrechensopfern gegründet haben, sitzen vor ihren Wohnmobilen und warten auf die willkommene Nachricht, dass die Hinrichtung vorbei ist. Ganz in der Nähe steht ihr »Denkmal«, eine große, dreiteilige Tafel für die Opfer der Mörder. Farbfotos von Kindern und lächelnden Studenten, Gedichte für die Toten, vergrößerte Schlagzeilen, die einen grausamen Doppelmord melden, unzählige Fotos der Menschen, die von den Insassen des Todestraktes abgeschlachtet wurden. Das Denkmal soll an die Opfer erinnern.
Nicht weit von ihnen entfernt führt ein katholischer Priester die andere Gruppe an, mit der er betet und singt. Manche Gegner der Todesstrafe sind bei jeder Hinrichtung dabei und beten nicht nur für die Verurteilten, sondern auch für deren Opfer. Die beiden Gruppen kennen und respektieren sich, doch sie sind völlig unterschiedlicher Meinung.
Wenn bekannt gegeben wird, dass die Hinrichtung vorbei ist, werden einige Gebete angestimmt. Dann werden die Kerzen gelöscht und die Gesangbücher weggepackt. Man umarmt sich, verabschiedet sich. Wir sehen uns bei der nächsten Hinrichtung. Als Ron Williamson am 29. April 1988 in McAlester ankam, war der H-Trakt zwar schon in der Diskussion, aber noch nicht
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