Der Gefangene
eiskalt.
Als Ron in den Todestrakt kam, saßen dort schon zwei andere Opfer des Justizwesens von Pontotoc County ein, was er anfangs nicht wusste. Tommy Ward und Karl Fontenot warteten seit fast drei Jahren darauf, dass ihre Revisionsanträge von den Gerichten bearbeitet wurden.
Der Läufer brachte Ron einen »Kassiber«, wie man im Gefängnis sagte, eine heimliche Nachricht, die von den Wärtern in der Regel ignoriert wurde. Sie war von Tommy Ward, der ihn begrüßte und ihm alles Gute wünschte. Ron schickte einen Kassiber zurück und bat um Zigaretten. Tommy und Karl taten ihm zwar leid, aber er war erleichtert zu wissen, dass nicht alle Insassen des Todestraktes Schlächter waren. Ron hatte die beiden immer für unschuldig gehalten und während seines Prozesses oft an sie denken müssen.
Tommy hatte mit Ron zusammen im Gefängnis von Ada gesessen und wusste, dass er psychisch labil war. Die Wärter und andere Häftlinge dort hatten sich einen Spaß daraus gemacht, die beiden zu verhöhnen. Einmal hatte mitten in der Nacht eine Stimme aus einer dunklen Ecke des Korridors gerufen: »Tommy, hier spricht Denice Haraway. Bitte sag mir, wo meine Leiche ist.« Tommy hatte mitbekommen, wie die Wärter untereinander geflüstert hatten und die anderen Gefangenen Gelächter unterdrücken mussten. Nachdem er die Spielchen ignoriert hatte, hatten sie ihn in Ruhe gelassen.
Ron war nicht so gelassen gewesen. »Ron, warum hast du Debbie Carter umgebracht?«, hatte es durch das Gefängnis von Ada geklungen. Ron war jedes Mal aus dem Bett gesprungen und hatte angefangen zu schreien.
Im Todestrakt musste Tommy jeden Tag darum kämpfen, nicht verrückt zu werden. Für echte Mörder war die Situation schon schlimm genug, aber einen unschuldigen Mann trieb sie buchstäblich in den Wahnsinn. Er fürchtete um Rons Geisteszustand, von dem Moment an, in dem dieser im Todestrakt ankam.
Nur die Wärter im Todestrakt kannten die Einzelheiten des Mordes an Debbie Carter. Kurze Zeit nach Rons Ankunft hörte Tommy, wie einer der Wärter rief: »Ron, hier spricht Debbie Carter. Warum hast du mich getötet?«
Ron, der zunächst ruhig geblieben war, fing an zu brüllen und seine Unschuld zu beteuern. Seine Reaktion gefiel den Wärtern, und die Hänseleien gingen weiter. Auch die übrigen Insassen hatten ihren Spaß daran und machten häufig auch noch mit. Einige Tage nach Rons Ankunft wurde Tommy plötzlich aus seiner Zelle gezerrt. Mehrere schwergewichtige Wärter legten ihm Hand- und Fußfesseln an. Er war sicher, dass es etwas Wichtiges war, obwohl er keine Ahnung hatte, wo es hingehen sollte. Das sagten sie einem nie.
Sie führten ihn ab, einen kleinen, mageren Mann, der so stark bewacht wurde, dass es auch für den Präsidenten gereicht hätte. »Wo gehen wir hin?«, fragte er, doch die Antwort darauf war wohl so wichtig, dass man sie ihm nicht geben konnte. Er schlurfte über den Gang, aus dem F-Trakt hinaus, unter dem riesigen Kuppelgewölbe von Big House hindurch, das bis auf die Tauben völlig leer war, zu einem Konferenzraum im Verwaltungsgebäude. Der Gefängnisdirektor wartete schon auf ihn, und er hatte schlechte Nachrichten. Ohne ihm die Fesseln abzunehmen, setzten sie ihn auf den heißen Stuhl am unteren Ende eines langen Konferenztisches, an dem dicht gedrängt Assistenten, Verwaltungsangestellte, Sekretärinnen und alle anderen saßen, die bei der makabren Ankündigung dabei sein wollten. Die Wärter blieben mit unbewegtem Gesichtsausdruck hinter ihm stehen, für den Fall, dass er einen Fluchtversuch unternahm, wenn er hörte, was ihm bevorstand. Ale am Tisch Sitzenden hatten einen Stift in der Hand, um das mitzuschreiben, was jetzt kam.
Der Direktor fing mit ernster Stimme zu sprechen an. Die schlechte Nachricht sei, dass kein Aufschub für die Hinrichtung gewährt worden sei und der Termin jetzt feststehe. Sicher, es schien etwas früh zu sein - Tommys Revisionsanträge waren noch keine drei Jahre alt -, aber manchmal kam es eben so und nicht anders.
Der Gefängnisdirektor drückte sein Bedauern aus, konnte aber nichts daran ändern. Der große Tag sollte in zwei Wochen stattfinden.
Tommy atmete heftig und versuchte zu begreifen. Seine Anwälte arbeiteten an den Revisionsanträgen, was, wie man ihm wiederholt gesagt hatte, Jahre in Anspruch nehmen konnte. Die Chancen auf einen neuen Prozess in Ada standen gut. Man schrieb das Jahr 1988. Seit zwanzig Jahren hatte es in Oklahoma keine Hinrichtung mehr gegeben.
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