Der Gefangene
sodass jede Darmentleerung zum Gemeinschaftserlebnis wurde. Durch die Raumaufteilung wurde das tägliche Gespräch - das Lebensblut der Gefangenen - unmöglich. Als Einrichtung mit Kontaktsperre war der H-Trakt so angelegt, dass nicht nur die Wärter von den Gefangenen ferngehalten, sondern auch die Gefangenen untereinander isoliert wurden. Der Hof, der im alten Gefängnis so beliebt gewesen war, bestand aus einem Betonkasten, der deutlich kleiner als ein Tennisplatz war. Die Wände waren sechs Meter hoch, und ein dicker Gitterrost schluckte das wenige Licht, das durch die Kuppel drang. Nirgends war grünes Gras zu sehen. Der neue Beton war weder versiegelt noch gestrichen, der Betonstaub allgegenwärtig. Er sammelte sich in den Ecken der Zellen. Er hing an den Wänden, legte sich auf die Böden und wurde natürlich von den Gefangenen eingeatmet. Anwälte, die ihre Mandanten besuchten, verließen das Gebäude oft hustend und keuchend.
Das hochmoderne Lüftungssystem war ein »geschlossener« Kreislauf, was bedeutete, dass es keinerlei Frischluftzufuhr gab. Das war erträglich, solange der Strom nicht ausfiel, was jedoch häufig geschah, weil die Anlage noch unter Kinderkrankheiten litt. Leslie Deik, die Ron Williamson zugewiesene Pflichtverteidigerin, erörterte die Probleme in einem Schreiben an einen Kollegen, der das Gefängnis verklagt hatte: Die Ernährungslage ist katastrophal. Fast alle meine Mandanten haben an Gewicht verloren. Einer hat in zehn Monaten vierzig Kilo abgenommen. Ich habe das Gefängnis darüber informiert, aber die be haupten natürlich, alles sei in Ordnung. Bei einem kürzlichen Besuch in der Krankenabteilung habe ich festgestellt, dass das Essen im alten Gefängnis zubereitet und von dort herübergebracht wird. Im HTrakt übernehmen andere Gefangene die Verteilung ich vermute, es handelt sich um Ersttäter, die an einem Abschreckungsprogramm teilnehmen. Diesen Leuten wird gesagt, sie könnten sich nehmen, was übrig ist. Daher sind die Portionen der Gefangenen im Todestrakt mittlerweile nur noch halb so groß wie die im übrigen Gefängnis. Soviel ich weiß, kontrolliert die Gefängnisbehörde kaum oder überhaupt nicht, was die zum Tode Verurteilten auf ihre Tabletts bekommen. Alle meine Mandanten haben sich darüber beschwert, dass das Essen jetzt immer kalt und so schlecht zubereitet ist, dass die Männer davon krank werden. Die Mengen sind so klein, dass die meisten gezwungen sind, sich Lebensmittel in der Kantine zu kaufen, damit sie genug zu essen haben. Das ist der Gefängnisladen, der seine Preise natürlich nach Belieben selbst festsetzt. (Meist sind sie viel höher als in einem Supermarkt.) Außerdem haben viele meiner Mandanten keine Familie, die sie unterstützen könnte, sodass sie mit dem Gefängnisessen auskommen müssen.
Der H-Trakt war für die Insassen ein Schock. Nachdem sie zwei Jahre lang Gerüchte über eine neue, moderne Einrichtung für elf Millionen Dollar gehört hatten, konnten sie es nicht fassen, dass sie in ein unterirdisches Gefängnis verlegt wurden, das weniger Platz bot als der F-Trakt und ihr Leben noch mehr einschränkte.
Ron hasste den H-Trakt. Sein Zellengenosse war Rick Rojem, der seit 1985 in der Todeszelle saß und einen beruhigenden Einfluss auf ihn ausübte. Rick war Buddhist. Er meditierte stundenlang und spielte Gitarre. Privatsphäre gab es in der Zelle nicht. Sie hängten eine Decke zwischen die Betten -ein schwacher Versuch, sich eine eigene Welt zu schaffen.
Rojem sorgte sich um Ron. Der hatte das Interesse an Büchern verloren, konnte sich nicht mehr auf ein Thema konzentrieren und schweifte im Gespräch ständig ab. Manchmal erhielt er Medikamente, aber an eine richtige Behandlung war nicht zu denken. Häufig schlief er stundenlang, nur um dann die ganze Nacht durch die winzige Zelle zu tigern, wobei er wirres Zeug murmelte oder einen Singsang anstimmte, in dem es um eine seiner Wahnvorstellungen ging. Dann wieder stellte er sich an die Tür und schrie vor Qual. Da sie dreiundzwanzig Stunden am Tag zusammen waren, musste Rick zusehen, wie sein Zellengenosse den Verstand verlor. Helfen konnte er ihm nicht.
Nach der Verlegung in den H-Trakt nahm Ron vierzig Kilo ab. Sein Haar wurde grau, und er sah aus wie ein Geist. Eines Tages wartete Annette im Besucherzimmer, als die Wärter einen mageren alten Mann mit strähnigem grauem Haar und Bart hereinführten. Wer ist das?, dachte sie. Es war ihr Bruder.
»Nachdem ich mir hatte
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