Der Gefangene
Schreiben an die Gefängnisleitung Ausdruck. Sie besuchte Ron so oft wie möglich. Immer wenn sie glaubte, sein Zustand könne sich nicht weiter verschlechtern, geschah genau das. Leslie befürchtete, er könnte jeden Augenblick sterben. Während sich das medizinische Personal bemühte, Ron zu behandeln, amüsierten sich die Wärter auf seine Kosten. Manche trieben mit der neuen Sprechanlage des H-Traktes ihre Spaße. Jede Zelle hatte eine Gegensprechanlage, die mit dem Kontrollraum verbunden war - ein weiteres Mittel, um Wärter und Gefangene so weit wie möglich voneinander zu trennen.
Nicht weit genug.
»Ron, hier spricht Gott«, hallte es mitten in der Nacht aus dem Lautsprecher in Rons Zelle. »Warum hast du Debbie Carter getötet?« Eine Pause, dann brüllte Ron zur Belustigung der Wärter durch die Tür: »Ich habe niemanden getötet! Ich bin unschuldig!« Seine tiefe, heisere Stimme dröhnte durch den südwestlichen Quadranten und störte die Ruhe. Solch ein Anfall dauerte üblicherweise etwa eine Stunde, was die anderen Gefangenen zur Weißglut trieb, aber den Wärtern großen Spaß bereitete.
Wenn er sich beruhigt hatte, meldete sich die Stimme erneut. »Ron, hier ist Debbie Carter. Warum hast du mich getötet?«
Seine gequälten Schreie wollten nicht enden. »Ron, hier ist Charlie Carter. Warum hast du meine Tochter getötet?«
Die anderen Gefangenen baten die Wärter aufzuhören, aber die hatten einfach zu viel Spaß daran. Rick Rojem war davon überzeugt, dass zwei besonders üble Sadisten nur dafür lebten, Ron zu schikanieren. Diese Misshandlung zog sich über Monate hin. »Ignorier sie einfach«, bat Rick seinen Zellengenossen. »Wenn du sie nicht beachtest, hören sie auf.«
Ron konnte das nicht verstehen. Er war entschlossen, seine Umgebung von seiner Unschuld zu überzeugen. Sich die Kehle aus dem Hals zu schreien schien ihm die richtige Methode. Wenn er nicht mehr brüllen konnte, weil er körperlich zu erschöpft oder heiser war, stand er stundenlang mit dem Gesicht zum Lautsprecher und flüsterte wirres Zeug.
Schließlich hörte Leslie Deik von den Umtrieben und schrieb am 12. Oktober 1992 einen Brief an den Leiter des H-Traktes. Auszugsweise hieß es darin:
Wie ich Ihnen gegenüber erwähnt hatte, habe ich aus verschiedenen Quellen erfahren, dass Ron Williamson von bestimmten Wärtern über die Gegensprechanlage schikaniert wird. Anscheinend finden sie es lustig, die »Irren« aufzustacheln und ihre Reaktion zu beobachten. Ich höre nach wie vor von solchen Vorfällen. Offenbar stellte sich Officer Martin kürzlich vor Ron Williamsons Zellentür und fing an, ihn zu schikanieren und zu verspotten (meines Wissens fallen dabei meistens die Namen »Ricky Joe Simmons« und »Debra Sue Carter«). Wenn ich richtig informiert bin, versuchte Officer Reading, dieses Verhalten zu unterbinden, aber Martin hörte erst nach mehr maliger Aufforderung damit auf.
Officer Martin wurde mir mittlerweile aus verschiedenen Quellen als eine der Personen genannt, die Mr Williamson routinemäßig schikanieren. Deswegen möchte ich Sie bitten, diese Angelegenheit zu untersuchen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Vielleicht wäre es möglich, Schulungsmaßnahmen für Wärter durchzuführen, die mit geisteskranken Gefangenen zu tun haben.
Nicht alle Wärter waren herzlos. Einmal blieb eine Wärterin spät am Abend vor Rons Zelle stehen, um sich mit ihm zu unterhalten. Er sah furchtbar aus und sagte, er sei am Verhungern, weil er seit Tagen nichts gegessen habe. Sie glaubte ihm und kam nach wenigen Minuten mit einem Glas Erdnussbutter und einem Laib altem Brot zurück. In einem Brief an Renee sagte Ron, er habe das »Festmahl« ungeheuer genossen und es sei kein Krümel übrig geblieben.
Kim Marks war Ermittlerin der Behörde für die Strafverteidigung Mittelloser. Letztendlich verbrachte sie mehr Zeit bei Ron im H-Trakt als irgendwer sonst. Nachdem ihr der Fall übertragen worden war, ging sie die Mitschriften der Verhandlungen, die Berichte und das Beweismaterial durch. Als frühere Zeitungsreporterin war sie von Natur aus neugierig und stellte daher Rons Schuld zumindest infrage.
Sie fertigte eine Liste mit insgesamt zwölf potenziellen Verdächtigen an, von denen die meisten einen kriminellen Hintergrund hatten. Glen Gore stand aus offensichtlichen Gründen ganz oben. Er war in der Nacht, in der Debbie ermordet worden war, mit ihr zusammen gewesen. Die beiden hatten sich seit Jahren gekannt,
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