Der Gefangene
ansehen müssen, wie sie diesen langhaarigen Menschen, diesen dürren, grässlich ausgezehrten Mann hereinbrachten, den ich besuchen sollte, obwohl ich ihn auf der Straße nicht einmal erkannt hätte«, berichtete sie, »schrieb ich, als ich wieder zu Hause war, an den Gefängnisdirektor und bat ihn, Ron auf Aids untersuchen zu lassen, weil er so eingefallen aussah. Ich kannte die Geschichten, die man sich über Gefängnisse erzählt, und deswegen bat ich darum, ihn auf Aids untersuchen zu lassen.«
Der Gefängnisdirektor versicherte ihr in seiner Antwort, Ron habe kein Aids. Darauf verfasste sie einen zweiten Brief, in dem sie sich über das Essen, die hohen Preise in der Kantine und die Tatsache beschwerte, dass mit dem Gewinn der Kantine Sportgeräte für die Wärter finanziert wurden.
1992 stellte das Gefängnis einen Psychiater namens Ken Foster ein, der Ron Williamson bald kennenlernte. Er fand ihn ungepflegt, desorientiert, ohne Realitätsbewusstsein, dünn, grau, gebrechlich, ausgezehrt und in schlechtem körperlichem Zustand. Für Dr. Foster lag es auf der Hand, dass etwas nicht stimmte, was die Gefängnisbeamten ebenfalls längst hätten merken müssen.
Rons geistiger Zustand war noch schlechter als sein körperlicher. Seine Ausbrüche und Anfälle gingen weit über das übliche Toben der Gefangenen hinaus. Für die Wärter und das andere Personal war es kein Geheimnis, dass er den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hatte. Dr. Foster erlebte mehrere abnorme Schreianfälle mit und stellte fest, dass es dabei um drei wichtige Themen ging: Erstens war Ron unschuldig, zweitens hatte Ricky Joe Simmons den Mord gestanden und sollte deswegen angeklagt werden, und drittens litt Ron unter großen körperlichen Schmerzen, vor allem in der Brust, und hatte Angst, dem Tod nahe zu sein.
Obwohl seine Symptome so offenkundig und extrem waren, zeigten die von Dr. Foster geprüften Unterlagen, dass Ron seit Langem nicht mehr wegen seiner geistigen Erkrankung behandelt worden war. Bekommt ein Mensch, der so krank ist, wie Ron es war, nicht die entsprechenden Medikamente, löst dies üblicherweise psychotische Symptome aus.
»Die psychotische Reaktion und die damit einhergehende Verschlechterung«, schrieb Dr. Foster, »werden verstärkt, wenn eine Person den multiplen Stressfaktoren ausgesetzt ist, die die Unterbringung in der Todeszelle und die Gewissheit der bevorstehenden Hinrichtung mit sich bringen. Nach der in den maßgeblichen Handbüchern zur geistigen Gesundheit verwendeten GAF-Skala ist der Freiheitsentzug ein schwerwiegender Stressor.«
Unmöglich zu sagen, wie sich ein solcher Stressor bei einem Unschuldigen auswirkte. Dr. Foster kam zu dem Schluss, dass Ron eine bessere medikamentöse Versorgung in einer besseren Umgebung benötige. Ron werde immer geisteskrank sein, aber selbst bei einen zum Tode Verurteilten sei eine Besserung möglich. Dr. Foster sollte jedoch bald feststellen, dass die Behandlung bereits verurteilter, kranker Gefangener eine sehr niedrige Priorität besaß.
Er sprach mit James Saffle, einem Bezirksdirektor beim Department of Corrections, und mit Dan Reynolds, dem Direktor von McAlester. Beiden waren Ron Williamson und dessen Probleme bekannt, und beide hatten andere Sorgen.
Ken Foster erwies sich jedoch als unabhängiger Sturkopf, der nichts von bürokratischen Entscheidungen hielt und seinen Patienten tatsächlich helfen wollte. Immer wieder be- richtete er Saffle und Reynolds in allen Einzelheiten von Rons ernsten geistigen und körperlichen Problemen. Er bestand darauf, Reynolds mindestens einmal pro Woche zu sehen, um mit ihm das Befinden seiner Patienten zu erörtern. Ron wurde stets erwähnt. Und er sprach täglich mit dem stellvertretenden Gefängnisdirektor, dem er die aktuellen Routineberichte übergab. Dabei vergewisserte er sich, dass die Zusammenfassungen an den Gefängnisdirektor weitergegeben wurden. Wiederholt wies Dr. Foster die Gefängnisverwaltung darauf hin, dass Ron nicht die Medikamente bekam, die er brauchte, und dass sich sein geistiges und körperliches Befinden aufgrund der unangemessenen Behandlung immer weiter verschlechterte. Besonders empört war er darüber, dass Ron nicht in die psychiatrische Krankenabteilung des Gefängnisses verlegt wurde, die in Sichtweite des H-Traktes lag.
Gefangene mit schweren geistigen Erkrankungen wurden routinemäßig in die psychiatrische Krankenabteilung gebracht, die einzige Einrichtung für eine Behandlung solcher
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