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Der Gefangene

Titel: Der Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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sodass er sich ohne Gewaltanwendung Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft haben konnte. Er war wegen zahlreicher Gewalttätigkeiten gegen Frauen aktenkundig. Und er hatte Ron angeschwärzt.
    Warum hatte die Polizei so wenig Interesse an Gore bekundet? Je eingehender sich Kim mit den Polizeiberichten und der Verhandlung befasste, desto mehr war sie davon überzeugt, dass Rons Proteste durchaus begründet waren.
    Sie besuchte ihn häufig im H-Trakt und musste wie Leslie Deik zusehen, wie er vollständig den Verstand verlor. Jeden Besuch ging sie mit einer Mischung aus Neugier und Sorge an. Noch nie hatte sie einen Gefangenen so rapide altern sehen wie Ron. Sein dunkelbraunes Haar wurde mit jedem Besuch grauer, obwohl er noch nicht einmal vierzig war. Er wirkte ausgezehrt wie ein Geist, was zu einem nicht geringen Teil auf den Mangel an Sonnenlicht zurückzuführen war. Seine Kleidung war schmutzig und saß schlecht. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und blickten zutiefst verstört. Ein Großteil ihrer Arbeit bestand darin, herauszufinden, ob der Mandant an einer geistigen Erkrankung litt, und gegebenenfalls nicht nur für eine angemessene Behandlung zu sorgen, sondern auch sachverständige Zeugen aufzutreiben. Für sie wie für jeden anderen Laien war offensichtlich, dass Ron geisteskrank war und sehr darunter litt. Bereits in der Anfangsphase wurden ihre Bemühungen durch die Gefängnisbehörde vereitelt, die Todeskandidaten grundsätzlich den Zugang zur psychiatrischen Krankenabteilung verweigerte. Wie Dr. Foster sollte Kim jahreslang gegen diese Politik kämpfen.
    Sie spürte das Video von Rons zweitem Lügendetektortest aus dem Jahre 1983 auf und sah es sich an. Obwohl er damals bereits als manisch-depressiv und möglicherweise schizophren diagnostiziert worden war, sprach er zusammenhängend, wirkte kontrolliert und war in der Lage, sich wie ein normaler Mensch zu verhalten. Neun Jahre später war nichts mehr an ihm normal. Er litt unter Wahnvorstellungen, hatte jeden Bezug zur Realität verloren und war von fixen Ideen besessen: Ricky Joe Simmons, Religion, die Lügen, die bei seiner Verhandlung verbreitet worden seien, sein Mangel an Geld, Debbie Carter, das Recht, seine Musik, der Riesenprozess, den er eines Tages gegen den Staat führen werde, seine Baseballkarriere, die Misshandlungen und Ungerechtigkeiten, denen er ausgesetzt sei. Sie sprach mit dem Wachpersonal, von dem sie hörte, dass er in der Lage war, einen ganzen Tag lang zu schreien. Einmal bekam sie selbst eine Kostprobe davon. Der H-Trakt war so merkwürdig angelegt, dass durch eine Lüftungsöffnung in der Damentoilette Geräusche aus dem südwestlichen Quadranten zu hören waren, wo Ron untergebracht war. Bei einem Besuch auf der Toilette hörte sie ihn zu ihrem Entsetzen blöken wie einen Irren.
    Es war ein erschütterndes Erlebnis. Gemeinsam mit Leslie bemühte sie sich noch intensiver, das Gefängnis zu einer besseren Behandlung zu bewegen. Sie versuchten, eine Ausnahmegenehmigung für die Verlegung in die psychiatrische Krankenabteilung zu bekommen und ihn am Eastern State Hospital begutachten zu lassen. Vergeblich.
    Im Juni 1992 beantragte Leslie Deik beim District Court von Pontotoc County im Rahmen der zweiten Phase des Rechtsmittelverfahrens eine Anhörung zur Beurteilung der Schuldfähigkeit. Bill Peterson legte Einspruch ein, und das Gericht lehnte den Antrag ab.
    Gegen diese Ablehnung wurde beim Revisionsgericht für Strafsachen sofort Revision eingelegt, das die Ablehnung bestätigte.
    Im Juli reichte Leslie Deik im Rahmen dieser zweiten Phase des Rechtsmittelverfahrens einen umfangreichen Antrag ein, der sich in erster Linie auf die zahlreichen Berichte über Rons Geisteszustand gründete. Sie argumentierte damit, dass seine Schuldunfähigkeit in der Verhandlung hätte erwähnt werden müssen. Zwei Monate später wurde das Gesuch abgelehnt, wogegen Leslie erneut beim Revisionsgericht für Strafsachen Revision einlegte. Erwartungsgemäß wieder ohne Erfolg. Der nächste Schritt war eine routinemäßige und hoffnungslose Revision beim U. S. Supreme Court. Ein Jahr später erging ein weiterer Ablehnungsbeschluss. Weitere Routineanträge wurden gestellt, die ebenso routinemäßig abgelehnt wurden. Als alle Rechtsmittel auf Ebene des Bundesstaats erschöpft waren, setzte das Revisionsgericht für Strafsachen am 26. August 1994 die Hinrichtung von Ron Williamson für den 27. September 1994 an.
    Er saß seit sechs Jahren und vier Monaten

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