Der Gefangene
folgenden Tag Leberzirrhose festgestellt wurde. Inoperabel, unbehandelbar, keine Chance auf eine Transplantation. Ein zweites Todesurteil, und es würde ein qualvoller Tod werden. Ihm blieben höchstens sechs Monate.
Er war einundfünfzig Jahre alt, und davon hatte er gut vierzehn hinter Gittern verbracht, wo er keine Gelegenheit gehabt hatte zu trinken. Seit seiner Entlassung vor fünf Jahren hatte er zwar kräftig zugelangt, aber es hatte auch lange Phasen vollständiger Enthaltsamkeit gegeben, in denen er gegen seine Alkoholsucht gekämpft hatte.
Warum also war er so früh an Leberzirrhose erkrankt? Annette hakte nach. Die Antwort war nicht einfach. Abgesehen vom Alkohol hatte er illegale Drogen konsumiert, seit seiner Entlassung allerdings nur sehr selten. Vermutlich hatten seine Medikamente ebenfalls dazu beigetragen. Sein halbes Leben lang hatte Ron zu verschiedenen Zeiten und in verschiedener Dosierung hochwirksame psychotrope Medikamente eingenommen.
Vielleicht hatte er von Anfang an eine schwache Leber gehabt. Das war jetzt auch gleichgültig. Wieder musste Annette Renee anrufen, um ihr die unfassbare Neuigkeit mitzuteilen.
Nachdem die Ärzte mehrere Liter Flüssigkeit abgesaugt hatten, forderte das Krankenhaus Annette auf, Ron anderweitig unterzubringen. Sieben Einrichtungen lehnten ihn ab. Schließlich fand sie ein Zimmer im Pflegeheim von Broken Arrow. Das Personal dort empfing Ronnie, als gehörte er zur Familie.
Annette und Renee wurde bald klar, dass sechs Monate eine unrealistische Prognose waren. Ron siechte schnell dahin. Bis auf seinen absurd geschwollenen Bauch schrumpfte und vertrocknete sein gesamter Körper. Während seine Leber mehr und mehr versagte, wurde der Schmerz immer unerträglicher. Er war nie beschwerdefrei. Stundenlang ging er langsam in seinem Zimmer auf und ab oder wanderte durch die Gänge des Pflegeheims.
Die Familie rückte enger zusammen und verbrachte so viel Zeit wie möglich mit ihm. Annette wohnte in der Nähe, aber Renee, Gary und ihre Kinder lebten bei Dallas. Das waren fünf Stunden Fahrt. Trotzdem kamen sie so oft wie möglich.
Mark Barrett besuchte seinen Mandanten mehrfach. Er war ein viel beschäftigter Anwalt, doch Ron war ihm immer wichtig gewesen. Sie sprachen über den Tod und das Leben danach, über Gott und die verheißene Erlösung durch Christus. Ron sah dem Tod mit großer Gelassenheit entgegen. Seit vielen Jahren freute er sich darauf. Vor dem Sterben hatte er keine Angst. Er war nicht verbittert. Er bereute vieles, was er getan hatte, die Fehler, die er begangen hatte, den Schmerz, den er anderen zugefügt hatte, aber er hatte Gott aufrichtig um Vergebung gebeten, und sie war ihm gewährt worden.
Er hegte keinen Groll, obwohl ihn Bill Peterson und Ricky Joe Simmons fast bis zum Schluss beschäftigten. Schließlich vergab er auch ihnen.
Bei seinem nächsten Besuch kam Mark auf das Thema Musik zu sprechen. Ron redete stundenlang von seiner neuen Karriere und wie er sein Leben genießen würde, wenn er erst aus dem Pflegeheim heraus war. Seine Krankheit und die Tatsache, dass er bald sterben würde, wurden nicht erwähnt.
Annette brachte ihm seine Gitarre, aber das Spielen fiel ihm schwer. Stattdessen bat er sie, ihre liebsten Kirchenlieder zu singen. Sein letzter Auftritt fand bei einer Karaoke-Veranstaltung im Pflegeheim statt. Irgendwie brachte er die Kraft auf zu singen. Das Pflegepersonal und viele Patienten kannten seine Geschichte inzwischen und feuerten ihn an. Danach tanzte er zu Musik aus der Konserve mit seinen beiden Schwestern.
Anders als die meisten Sterbenden, denen Zeit für Überlegung und Planung bleibt, rief Ron nicht nach einem Geistlichen, der ihm die Hand halten, seine letzte Beichte hören und mit ihm beten sollte. Er kannte die Bibel so gut wie jeder Prediger und glaubte fest an das Evangelium. Vielleicht war er öfter vom rechten Weg abgekommen als andere, aber er hatte bereut, und es war vergessen.
Er war bereit.
Es hatte ein paar schöne Augenblicke gegeben in den fünf Jahren seines Lebens in Freiheit, aber im Großen und Ganzen war es eine unangenehme Erfahrung gewesen. Er war siebzehnmal umgezogen und hatte mehrfach bewiesen, dass er nicht allein leben konnte. Welche Zukunft hatte er denn? Für Annette und Renee war er eine Last. Einen großen Teil seines Lebens war er jemandem zur Last gefallen, und er war müde.
Seit er in der Todeszelle gesessen hatte, hatte er oft zu Annette gesagt, er wünschte, er wäre nie
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