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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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vollkommen abgenabelt hatte, stapfte ich über das Kopfsteinpflaster und stürzte hinein in die Feuersbrunst.
    Würgend vor Hitze und Rauch zog ich ein Tuch aus der Tasche und wischte mir die tränenden Augen, bevor ich es mir übers Gesicht band. Plötzlich hörte ich Schüsse und ließ mich instinktiv fallen, dann wurde mir klar, dass es nur das Knallen zerplatzender Flaschen war. Während oben auf den Galerien das Feuer wütete, boten die dicken Mauern der Kühlfächer im Erdgeschoss noch eine gewisse Dämmung, wenngleich einzelne Flammen bereits an Fleischstücken leckten, sodass das spritzende Fett den Brand weiter anfachte. Lohende Kronen und Krausen bekränzten die Heringsfässer und das hängende Wild, und in einem Kühlfach erblickte ich einen Zehnender mit brennendem Geweih. Im Zwischengeschoss glühte eine Leiter hell auf, ehe sie zu Asche zerfiel; ein Frachtaufzug warf seine offene Kabine in den schwelenden Staub. Die Eiswälle schmolzen zu einem Katarakt, der den Maschinenpark überflutete und damit den entzündlichen Gasen die Möglichkeit zur Explosion raubte - aber auch so war schon die Hölle los. Überall um mich herum toste und wirbelte das Feuer in Säulen und Spiralen.
    Bei einem Stapel glimmender Körbe erspähte ich einen einsamen Handkarren und wollte ihn packen, aber der Stahlrahmen war zu heiß. Ich zog den Regenmantel aus und wickelte ihn um die Griffe. Dann schob ich den zweirädrigen Wagen wie einen Rammbock im Zickzack durch die brennende Fabrik, um schwirrenden Funken und herabfallenden Trümmern auszuweichen. Am hinteren Ende schlingerte ich hinüber zum Sanctum, das sich durch das wuchtige Vorhängeschloss von den anderen Kühlräumen unterschied. Doch das Schloss hing herab, und die Tür stand sperrangelweit offen. Atemlos kam ich auf der Schwelle zum Stehen und erblickte etwas, was ich erst begriff, als ich mir die brennenden Augen gerieben hatte: Dort stand mein Papa in einem kragenlosen Hemd, den abgestreiften Schafpelz zu seinen Füßen, und stammelte wirres Zeug, während er an einem Seil zerrte wie Quasimodo beim Läuten der Glocke. Das Seil war an einem Deckenflaschenzug befestigt und hielt als straffes Dreieck den alten, aufgebockten Sarg umschlungen. Die verwitterten Planken waren termitenzerfressen, und der Inhalt tropfte trotz der gut erkennbaren Zinkversiegelung durch die vielen Löcher. Wie mein Vater den Schrein befördern wollte, nachdem er ihn von den Gestellen gehoben hatte, war mir völlig schleierhaft - außer er erwartete jemanden mit einem Fahrzeug, um den Kasten wegzukarren.
    Ich ließ den zweirädrigen Wagen an der Tür zurück und trat in das Sanctum, wo die Luft kaum kühler war als in der Lagerhalle, um neben meinem Papa an dem Seil zu ziehen. Ohne Brille wirkten seine Augen lachsrosa, als er sich zu mir umwandte und nur einen Fremden wahrzunehmen schien. Dann nutzte er die Gelegenheit, dass meine Hände beschäftigt waren, und zog mir die Maske vom Gesicht - und kniff mir mit breitem Grinsen in die glühende Wange. Als er das Seil wieder fest im Griff hatte, setzte er sein Gemurmel fort, das wie eine Mischung aus Andachtssprüchen und Zahlenformeln klang. Zusammen gelang es uns, den Sarg einige Zentimeter von seinem Gerüst zu heben, doch in diesem Augenblick drang eine Rauchfahne mit lodernder Spitze in den Kühlraum ein und drohte ihn in wenigen Minuten zum Krematorium zu machen. Gleichzeitig glitten die Flammen am Seil herab, das mit lautem Knistern entzweiriss, sodass der Sarg wieder auf die nun ebenfalls brennenden Böcke krachte. Mein Papa stockte nur einen Herzschlag lang, dann warf er sich auf den Sarg, als wollte er ihn mit bloßen Händen aufrichten. Da ich seine Anstrengungen für sinnlos hielt, fasste ich ihn an den Schultern, um ihn wegzuziehen, doch er entwand sich meinem Griff mit einer Heftigkeit, die mich erschauern ließ. Seine Raserei erinnerte mich an meine.
    Ich erkannte, dass ich ihn bewusstlos schlagen musste, um ihn hinausschleppen zu können, doch bevor ich handeln konnte, löste sich oben in einem Schauer von Funken ein Balken und stürzte direkt auf meinen Vater. Ich bückte mich, um das Hindernis zu entfernen, und verbrannte mir die Finger an der verkohlten Oberfläche, während mein Papa ächzend und mit dem Gesicht zum Boden unter der Last lag. Da ich ihn weder am Rumpf noch an seinem brennenden rotblonden Schopf zu fassen bekam, zerrte ich an seinen Fußgelenken, doch ich zog den Balken nur mit. Dann stürzte ein zweiter

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