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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Palettenaufzug …« Ich weiß nicht, was mich plötzlich in einer pädagogischen Anwandlung dazu veranlasste, meinen Kumpanen die von meinem Vater erfundenen Apparate vorzustellen. Im Grunde interessierte ich mich überhaupt nicht für die Maschinen und hätte ihre Funktionsweise auch gar nicht erklären können. Irgendwie war ich von dem Wunsch erfüllt, Schmerl Karps Genialität noch eine letzte Reverenz zu erweisen. Der Wurm unterbrach mich und klagte, dass er schon Frostbeulen bekam, und auch Pretty meinte mit klappernden Zähnen, dass es an der Zeit war, hier ein wenig einzuheizen. In der Gewissheit, dass sich außer uns niemand in dem Bau herumtrieb, kürzten wir unseren Rundgang ab und kehrten zu dem breiten Hauptkorridor zurück.
    Ich fragte mich, worauf wir noch warteten, dann meldete sich Morris zu Wort: »Auf dein Zeichen.« Nach einer kurzen Pause fügte er bissig hinzu: »Boss.« Wahrscheinlich hatte Naftali ihnen eingeschärft, dass die Initiative von mir ausgehen musste. Also nickte ich. Das war alles. Nur ein kleines Rucken mit dem Kinn bewegte meine Komplizen dazu, die Lumpen anzuzünden und die Brandsätze durch die Gegend zu schleudern. Einer traf einen gigantischen Dachsparren, der andere eine fünfzehn Zentimeter dicke Kühlfachtür. Sie entluden sich mit dem gedämpften Geräusch eines Tischtuchs, das ausgebreitet wird, und entfalteten sich sofort zu züngelnden Flammen. Die ersten Explosionen zogen weitere nach sich, bis zu beiden Seiten des Gangs ein hängender Feuergarten entstand, dessen Blüten winkten wie gezackte Taschentücher. Mit leckenden Lohen wucherte der Garten über alle Oberflächen des zundertrockenen Gebäudes. Nun war ich an der Reihe. Ich borgte mir ein Streichholz von Pinsky, das ich am Absatz entzündete und in das verschüttete Terpentin warf. Die Feuerschlange raste dahin und wand sich zum entgegengesetzten Ende der Fabrik und um eine Ecke, bis sie den Kreis schloss und zurückkehrte, um sich zu unseren Füßen in den eigenen Schwanz zu beißen.
    Wir flohen durch den Vordereingang und über die Wagenfurchen, um in einer Seitengasse auf der anderen Seite der Canal Street Deckung zu suchen. Von dort aus machten wir uns auf den Weg zu Simmie Tischlers Ginkneipe an der Grand Street, um die erfolgreiche Erledigung des Auftrags zu melden und in den Reihen unserer Mitverschwörer mit Nafs wässrigem Gebräu anzustoßen. Aber nach dem ersten Block wurde mein Schritt langsamer, bis ich schließlich stehen blieb. Meine beiden Begleiter schauten sich nach mir um und hielten ebenfalls an. Morris fragte: »Was ist los?« Da ich zu keiner Antwort fähig war, stützte ich die Hände auf die Knie, als wäre ich außer Atem. Was ich ihnen nicht verraten konnte, war, dass mir genau in diesem Moment eine bis dahin versunkene Erinnerung in den Sinn kam. Während meiner Zeit im Eishaus hatte ich den abgeschlossenen Raum im rückwärtigen Teil der Fabrik, den Papa gern als Sanctum bezeichnete, geflissentlich gemieden, da ich keine Lust hatte, diesem Albtraum noch einmal zu begegnen. Aber selbst wenn dieser Raum existierte, mein Vater lag bestimmt zu Hause im Bett, und für das Ice Castle war es besser, wenn es in Flammen aufging - die wir schon über den Dächern wabern sahen.
    »Ich muss im Eishaus meine Taschenuhr verloren haben«, log ich und klopfte dabei meine Kleider ab.
    Pretty Pinsky musterte mich mit böswilliger Eindringlichkeit, während Morris die Achseln zuckte und seinen Kumpan weiterzog. »Wir sehen uns beim Alten«, rief er über die Schulter. Keine Spur von Überzeugung lag in seiner Stimme, als hätten sie schon die ganze Zeit damit gerechnet, dass ich sie im Stich lassen würde.
    Als ich wieder in der Canal Street ankam, war das Eishaus ein Backofen. Durch die offenen Türen und unter dem Dach züngelten bereits die Flammen, und über der leeren Straße hing ein Leichentuch aus Rauch und Ruß. Bald würde das Viertel von dem erstickenden Qualm erwachen, Alarmglocken würden läuten, Menschen zusammenlaufen, Sirenen heulen. Doch noch schien alles geradezu friedlich, als wäre ein brennendes Gebäude an einer ausgestorbenen Gettostraße das Normalste von der Welt. Selbst auf dem gegenüberliegenden Gehsteig spürte ich die Hitze auf den Wangen. Auf einmal fragte ich mich angesichts meines Vorhabens, ob ich den Verstand verloren hatte. War ich irgendwie doch der Sohn meines Vaters? Ich wies den Gedanken weit von mir. Überzeugt, dass ich mich von meinen glücklichen Eltern

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