Der gefrorene Rabbi
Welt Symptome ihres nahenden Endes an den Tag legte. Diese Haltung stand im Einklang mit der Pfingstbewegung, die ihre Kindheit geprägt hatte, wenngleich sie die fanatischen Stimmen aus diesem Lager ebenfalls als Vorzeichen des bevorstehenden Endes wertete. Sie war eine komplizierte Person und stand in ständigem Konflikt mit ihrem Fatalismus, aus dessen Perspektive der von Terroristen herbeigeführte Einsturz der Türme in New York genauso selbstverständlich war wie die berserkerhafte Reaktion des Landes darauf; sie rechnete mit dem Rachedurst, der die Flammen eines bereits brennenden Planeten schüren musste, und sagte ein Feuer voraus, das alles erfassen würde. Im Namen des Heimatschutzes hatten gesichtslose Bürokraten über Nacht die Freiheit auf das Maß eines Schattenpolizeistaats zurechtgestutzt, und in der daraus folgenden paranoiden Atmosphäre waren die Bürger nicht mehr in der Lage, zwischen realen und eingebildeten Bedrohungen zu unterscheiden.
Außerdem ging der Staat in aller Schärfe gegen illegale Einwanderer vor, ein Status, dem auch der ehemals gefrorene Rabbi entsprach. Nicht dass das aktuelle Klima seine geschäftliche Entwicklung gebremst hätte, im Gegenteil, die Furcht bot einen gesunden Anreiz für die Suche nach spirituellem Trost, und so erwies sich die Zeit sogar als besonders günstig für Rabbi ben Zephirs Projekt. Die Einwohner aus dem Einzugsgebiet von Memphis strömten in noch nie da gewesenen Scharen in das Haus der Erleuchtung, und die stets an den Umtrieben des Rabbis interessierten Zeitungen breiteten sich sogar über seine Pläne für eine weltweite Expansion aus. Je berühmter er wurde, desto lauter wurde natürlich die Kritik gegen ihn. Abgesehen von den warnenden Gemeinplätzen aus der geistlichen Ecke und den üblichen Enten über die Weisen von Zion, gab es auch Stimmen, die Rabbi ben Zephirs Gemeinde sektenartige Tendenzen unterstellten; es meldeten sich mehrere »Aussteiger«, die dem Rabbi und seinen Anhängern Nötigung, Gehirnwäsche und schwerwiegende sexuelle Vergehen vorwarfen. Und es war auch nicht unbedingt hilfreich, dass das Boibiczer Wunder in jüngerer Zeit bei seinen Predigten mit überspannten Äußerungen aufgefallen war, wie etwa der kaum verschleierten Andeutung, dass er der Messias oder zumindest dessen Vorbote sei. All dies wurde von den Lokalzeitungen genüsslich ausgebreitet, die daran interessiert waren, die Kontroverse nicht einschlafen zu lassen. Dennoch blieben diejenigen, die eifrig das Lob des rebbe sangen, in der Mehrheit gegenüber denen, die seine Unvollkommenheiten tadelten.
Die Gegner zitierten aus den offiziellen Abhandlungen und Zeugnissen, die das Haus der Erleuchtung verteilte und für deren Komposition der vielseitige Mr. Grusom, der Buchhalter von Bernies Vater, als Ghostwriter verantwortlich zeichnete. Dazu kamen die Memoiren des Rabbis, die in Ladenketten und Zeitungsständen an Flughäfen verkauft wurden und versprachen, zu einem Klassiker der Inspirationsliteratur à la Der Prophet oder Autobiografie eines Yogi zu werden. Bernie hatte pflichtbewusst einen Blick in den Hochglanzband Der Weise aus dem Eis geworfen - als Pendant zu Grandpa Rubys Tagebuch - und ihn dann kommentarlos an Lou Ella weitergegeben, die eine Schwäche für solche Bekenntnisse hatte. Sie verstand es als bereichernde Ergänzung zu dem prosaischen Bericht im Kontenbuch von Bernies Großvater. Der Weise aus dem Eis (ebenfalls von Grusom verfasst, der den Rabbi von der Taktlosigkeit des ursprünglichen Titels Der erotische Zadik überzeugen konnte) war Rabbi ben Zephirs Darstellung seiner spirituellen Abenteuer in der Zeit, als sein Körper im Eis eines Pferdeteichs auf dem Grundbesitz von Baron Jagiello gefangen war. Während sein Haupt bekränzt war von statischen Kaulquappen und Elritzen, gelangte sein Geist in die höchsten Gefilde der künftigen Welt. Er saß in himmlischen Akademien, nahm an Podiumsdiskussionen mit Propheten und Patriarchen teil, bei denen die heikleren Fragen der alten Mysterien analysiert wurden. Inzwischen war sein Körper aus dem Eis geschnitten und über den halben Globus gekarrt worden. Über die Familie, die ihn fast ein Jahrhundert lang durch die Gegend geschleppt hatte, verlor der Rabbi in seinem Bericht kaum ein Wort; sie war nur ein Mittel zum Zweck, und wenn er ihre Anstrengungen überhaupt würdigte, dann nur, um seine geografische Mobilität zu erklären.
Wenngleich das Buch den Untertitel »Rabbi ben Zephirs Abenteuer
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