Der gefrorene Rabbi
Träger herab und zerbarst in glühende Splitter, die meinen Vater fast unter einem Hügel leuchtender Aschesalamander begruben. Stolpernd sah ich mich nach einem Werkzeug um, und ihn freizuschaufeln, in dem undeutlichen Bewusstsein, selbst verletzt worden zu sein. Meine Finger waren mit Blasen bedeckt, ich hatte eine klaffende Wunde am Kopf, und die entkräftete Lunge wollte keinen Rauch mehr einatmen. Plötzlich wogte der Raum zurück, und ich war zu einem höheren Ort gelangt, als ich es je für möglich gehalten hätte.
Auf einem breiten Rücken wurde ich durch das Inferno getragen, glitt heraus aus dem Eishaus auf die Straße und rechnete halb damit, zum Himmel aufzufahren. Doch stattdessen wurde ich sanft abgesetzt, wo ich hustend und spuckend versuchte, den Rauch aus meiner Lunge zu drängen. Mit den Fäusten rieb ich mir die Augen und konnte gerade noch erahnen, wie mein Retter - breite Schultern, um die sich der Saum eines Bauernhemdes spannte, der Hals so dick wie der geschorene Schädel - wieder im gehenem des Ice Castle verschwand. Nach mehreren Minuten schmerzvoller Spannung tauchte er wieder auf und hatte sich anscheinend verdoppelt; denn er wurde von seinem eineiigen Zwilling begleitet, der mit ihm unter der Last des angesengten, tropfenden Zedernholzsargs stöhnte. Mit gewichtigem Poltern wurde er neben mich auf den Gehsteig gestellt, gerade als ich mich aufraffte und mit verätzten Fingern auf das brennende Gebäude deutete.
»Mein Papa«, wisperte ich, und das massige Paar tauschte verwirrte Blicke aus. Dann wandten sie sich zurück zum Eishaus, doch in diesem Moment wurde die Canal Street von einer Explosion erschüttert wie vom Schlag eines riesigen Teppichklopfers. Aus den Ruinen des Eishauses schoss eine schwarze Wolke in der Form eines riesigen Blumenkohls mit feurigem Stiel und verschmolz mit dem Sonnenaufgang über dem Fluss. Die Wange an den Sarg gedrückt und seinen schimmligen Geruch inhalierend, schützte ich mich mit erhobenen Armen vor dem Trümmerhagel. Aus der Ferne näherten sich Sirenen, Pfeifen und Klingeln wie eine Parade, die das Ende der Welt einläutete …
2001
… I as Bernie vor, während er mit Lou Ella in der Gabelung einer Lebenseiche im botanischen Garten oder bei einer Schüssel Fruchtpastete im Dixie Café saß, und sie versicherte ihm, dass seine Familie - trotz der Kannibalen, Ku-Kluxer und anderen Arschlöcher unter ihren Verwandten - ja wohl den Vogel abschoss. Bernie, der ebenfalls zum ersten Mal von der Verbrennung seines Urgroßvaters gehörte hatte, war geneigt, ihr zuzustimmen, und je näher sie dem Ende von Rubys Tagebuch kamen, desto stärker wurde sein Gefühl, dass darin die Antwort verborgen lag. Doch noch war es nicht so weit, noch war einiges zu lesen, und Lou Ella drängte ihn fortzufahren. Offenbar gefiel ihr, wie sie zusammen die Wanderungen der Familie Karp nachverfolgten, während sie und Bernie ebenfalls durch die Stadt Memphis wanderten und sich in den verwahrlosten Winkeln umtaten - verlassene Aufnahmestudios und Heartbreak Hotels -, wo die antiseptische Gegenwart noch nicht die Vergangenheit übertüncht hatte. Beiden war bewusst, dass sie ein Zwischenspiel genossen.
Angestachelt von der Zuneigung zu seiner Beinahegeliebten Lou und damit zur ganzen Welt, durchlief Bernie Karp in dieser Phase einen merklichen Wandel. Zum einen gab er sich nicht mehr zufrieden mit visionären Reisen, die ihm nun egoistisch und selbstverliebt vorkamen. Klar, es war schön, sich mit dem göttlichen Wesen zu vereinen, aber letzten Endes hatten die Weisen recht mit ihrer Einschätzung: »Man lebt mit den Menschen.« Wenn man niemanden mitnehmen konnte, was hatte es dann für einen Sinn, den eigenen Körper zu verlassen? Zum anderen hatte Bernie keine klare Vorstellung, was als Nächstes auf ihn wartete, doch zumindest stand für ihn fest, dass er »den Bullen am Schwanz« packen wollte, wie Lou immer sagte. Lou Ella hingegen hatte zwar maßgeblich dazu beigetragen, dass er sich die Erfahrung eines irdischen Lebens nicht entgehen ließ, wurde aber nun selbst von bösen Vorahnungen heimgesucht und setzte sich aktiv dafür ein, das Kommende hinauszuzögern.
Inzwischen hatte die Welt um sie herum damit begonnen, Lou Ellas Urteil über sie gerecht zu werden. Bernie mochte bei seinen Ausflügen die Geschichte aus der Vogelperspektive genießen, doch auch Lou verfügte über ihr ganz persönliches zweites Gesicht und zeigte sich nicht im Geringsten erstaunt, als die
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