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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Schilde führten. Aber wir trugen schwarze Regenmäntel und Sturmhauben und schlichen uns durch Nebengassen. Da das Ice Castle praktisch keine Fenster hatte, nahm ich an, dass der Wurm seine Kunst unter Beweis stellen und das Schloss einer Seitentür knacken würde. Doch nach einem genauen Studium der Fassade überquerte er die Straße und schritt auf das scheunengroße Tor an der Canal Street zu, deren Kopfsteinpflaster um diese Zeit - etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang - völlig verlassen war. Wenn wir dieses Riesentor öffneten, so sein Plan, würde das bestimmt den Wachmann anlocken, den wir dann aus dem Verkehr ziehen konnten.
    Als Morris an diesem frühen, frostigen Märzmorgen die Flügel seines Ölmantels ausbreitete, kam im Futter ein Arsenal von Werkzeugen zum Vorschein. Mit einem Wink überließ er Pretty die Auswahl, und als der Feuerteufel zögerte, wie vor einem Tablett mit Vorspeisen, schnauzte er ihn ungeduldig an: »Die Brechstange, du Arschgesicht!« Pretty nahm die Eisenstange von ihrem Haken und hielt sie Morris hin, der sie sogleich in den schmalen Spalt unter dem Tor stieß. Mit einem kurzen Ruck vergewisserte er sich, dass die abgewinkelte Spitze Halt hatte, dann hob er das Werkzeug und löste damit den inneren Riegel des Eingangs. Schwer schwangen die Tore nach außen, und wir traten zurück, überrascht (zumindest was mich betraf), dass der Einbruch so mühelos vonstattenging.
    Aber wo blieb der Wachmann, den wir aufscheuchen wollten? So stapften wir betont laut ins Eishaus und zogen die Tore hinter uns zu. Die plötzliche arktische Kälte raubte uns den Atem. Immer noch wollte uns keine Menschenseele begrüßen. In der steinkalten Finsternis öffnete der Wurm wieder seinen Mantel und zog eine kleine Blendlaterne heraus. Pretty entfachte ein Sturmstreichholz an seinem Stoppelkinn und zündete sie an. Wie ein Bahnwärter schwang Morris die Laterne hierhin und dorthin, um in den von Kühlräumen gesäumten Korridor vor uns zu leuchten. Das Wenige, was dabei sichtbar wurde, erinnerte mich umso mehr an das, was verhüllt blieb: die von Eiswällen eingeschlossenen Gemüsekisten auf den Böden und Galerien, die knarrenden Träger und Balken, die das eingesunkene Dach stützten. Doch so vertraut ich einst mit jedem Winkel des Castle gewesen war, in dieser Nacht erschien mir alles fremd. Das Gebäude strahlte eine Strenge aus wie ein Depot, in dem der Winter selbst eingelagert wurde.
    Wenn meine Begleiter etwas von meiner Ehrfurcht empfanden, so ließen sie sich nichts davon anmerken. Prettys Knopfaugen spähten aus seinem gipsernen Gesicht, und der Wurm schwadronierte: »Irgendwo hab ich gelesen, dass Kaliumchlorid ganz von allein zu brennen anfängt, man muss nicht mal mehr anzünden …« Pretty arbeitete lieber traditionell und äußerte sich geringschätzig über diese neue Technik. Ich fragte mich, was ich hier eigentlich mit diesen zwei trombenikß machte. Warum hatte ich das Bedürfnis, mich vor solchen Gestalten zu beweisen? Morris schwenkte weiter die Laterne, bis ich zischte: »Hör auf damit, mir wird schlecht.« »Seit wann bis du der Boss?«, entgegnete er. Seufzend schlug ich einen Rundgang durch die Fabrik vor, um sicher zu sein, dass niemand hier war; nicht dass es uns besonders gekümmert hätte, Unschuldige einzuäschern. Aber es durfte auf keinen Fall Zeugen geben. Und wo war nur der Wachmann?
    Mit professionellem Räuspern regte Morris an, dass wir uns aufteilen sollten, um alles abzuklappern. Doch ich warnte ihn vor den vielen Winkeln und Sackgassen im Eishaus. »Ich will nicht, dass ihr euch verlauft«, bemerkte ich ein wenig unaufrichtig. Sie rümpften zwar ein wenig die Nase über meine Fürsorglichkeit, aber wir marschierten gemeinsam durch den zentralen Gang. Unterwegs schob ich den Krug auf die Hüfte und ließ Terpentin heraustropfen wie einen Faden, dem wir zurück zu unserem Ausgangspunkt folgen konnten. Wie Glühwürmchen huschte das Laternenlicht über die in den Kühlfächern baumelnden Lenden und Flanken und die Gestelle mit den Bären- und Hundefellen. In der Mitte der Fabrik war das Eis in Blöcken aufgestapelt, deren Umfang von fünfzig bis vierhundert Pfund reichte und deren Grenzen mit faserigen Strohhalmen markiert waren. Eine tief gelegene Luke führte zu einem schlafenden Maschinenlabyrinth aus Riemen, Zahnkränzen, Motoren und Rädern.
    »Das da drüben über dem Kondensator ist der Kettenzug und dort der Stapelbehälter aus galvanisiertem Stahl mit dem

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