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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Zimmer im Haus seiner Eltern bewohnte? Dort stöberte er tagsüber in den Büchern, die er aus der genisa der Anshei Mishna Shul »geborgt« hatte. Es handelte sich um Schriften für angehende Heilige, deren Seiten mit seinen ersten Barthaaren markiert waren und deren hebräische Buchstaben allmählich in seine DNA eingingen. Außerdem war es Bernie auch peinlich, dass Lou die Kosten für ihre Ausflüge bestreiten musste, auch wenn sie ihm versicherte, dass das für sie kein Problem war. Das Benzin für den Malibu ihrer Mutter und die Rechnungen im Arcade Diner gegenüber dem Bahndepot bezahlte sie mit dem Geld, das sie mit ihrem Job in einer Videothek verdiente. Das bedeutete aber auch, dass sich ihre gemeinsame Zeit auf die Abendstunden beschränkte, nachdem Lou Ella (die nach jahrelangem Fahren ohne Führerschein endlich die offizielle Prüfung abgelegt hatte) ihre Mutter zur Arbeit gebracht hatte. Und es bedeutete, dass Sue Lily immer mit von der Partie war. Allerdings hatte sich Bernie an das brave Anhängsel seiner geliebten Lou längst gewöhnt.
    Seine Bemühungen, im Erwerbsleben Fuß zu fassen, erwiesen sich als Katastrophe. Zuerst versuchte er es beim Jahrmarkt von Shelby County, wo ihn ein erfahrener Schausteller zur Probe in seine Bude aufnahm. Eine klassische Abzockfalle, denn die Kunden warfen Schlagbälle auf Pyramiden aus bleigefüllten Milchflaschen. Da nur drei Würfe vorgesehen waren, um drei stabile Pyramiden zum Einsturz zu bringen, gewann nie jemand die als Hauptgewinn ausgestellten Stofftiere. Doch das war vor Bernies Zeit. Er war offen für Verhandlungen und gewährte den Kunden zusätzliche Gelegenheiten, die Flaschen zu Fall zu bringen, was letztlich dazu führte, dass er zahlreiche erste Preise verteilte. Als er gerade dem Sohn eines Mannes, der ihn zu weiteren Würfen überredet hatte, einen Riesenpanda überreichen wollte, tauchte der Budeninhaber auf und wollte wissen, was da vor sich ging. Bernies Erklärung hatte zur Folge, dass der Schausteller dem kreischenden Kleinen den Panda aus den Armen riss, der Vater mit rechtlichen Schritten drohte und der Angestellte in Schimpf und Schande davongejagt wurde. Den zweiten Anlauf unternahm Bernie als Tagelöhner auf einer Baustelle in der Innenstadt. Dort sollte er Sperrholzplatten über eine Rampe tragen, die sich über frisch gegossenen Beton erstreckte. Bei seinem ersten Gang erfasste eine plötzliche Windbö die Platte und riss Bernie von der Planke hinunter in das nasse Fundament. Als er völlig verkrustet auf dem Parkplatz von Lou Ellas Videoladen auftauchte, bemerkte sie, dass er aussah wie die Statue aus Don Giovanni , und machte sich noch mehr Sorgen um ihren Freund.
    Bernie hingegen, der sein Missgeschick mit Fassung trug, ängstigte sich weiterhin um den Rabbi, zumal er noch immer die Möglichkeit sah, sich mit ihm zusammenzutun. Natürlich kannte er das Kriterium für Humbug, das Maimonides in seinem Führer der Unschlüssigen genannt hatte: Wenn der Kandidat mit seinem Leben oder seinen Lehren gegen feste moralische Normen verstößt, ist dies der Beweis für einen Betrug. Doch Bernie glaubte nach wie vor an das Boibiczer Wunder, auch wenn er den Alten vor sich selbst schützen wollte. Inzwischen hatte neben den Geistlichen und Journalisten auch eine Reihe von Lokalpolitikern - wenn auch nur vorsichtig, um ihre Wähler nicht vor den Kopf zu stoßen - in den Chor derer eingestimmt, die an der Legitimität des Rabbis zweifelten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis böswillige Kräfte das Haus der Erleuchtung zu Fall bringen würden. Dann musste Bernie bereit sein, den rebbe vor der Selbstzerstörung zu bewahren.
    »Cool«, meinte das Mädchen. Doch in Wirklichkeit fragte sie sich, wer dringender der Rettung bedurfte. Denn nun, da der Appetit auf Irdisches bei ihm die Sehnsucht nach Transzendenz verdrängt hatte, während diese beiden gegensätzlichen Wünsche ihrerseits im Widerspruch zu seiner Leidenschaft für Lou Ella standen, rückte ihr seine Verletzlichkeit immer deutlicher vor Augen. Da sie sich zum Teil dafür verantwortlich fühlte, drängte sie ihn nicht mehr, seine Kräfte offen zu erklären; sie zog sich aus der Rolle als sein Gewissen zurück und forderte ihn auf, bitte einfach weiter laut die Geschichte von dem Vatermord vorzulesen. Da Grandpa Rubys Tagebuch beide immer stärker in seinen Bann zog, schien das Fehlen einer körperlichen Komponente in ihrer Vertrautheit fast belanglos, und manchmal konnte sie ihre

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