Der gefrorene Rabbi
gedacht.«
Lou Ella legte den Kopf schräg, und ein Ohrring baumelte wie ein kleiner Tomahawk. »Kauen Sie da immer noch drauf rum? Na ja, wenn es Sie beruhigt, wir haben es nie gemacht. Nicht, dass wir’s nicht probiert hätten.«
Julius war sich nicht sicher, ob er nach dieser Information wirklich beruhigt war, aber irgendwie wurde es ihm allmählich zu viel. Das Mädchen saß noch keine zwei Minuten in seinem Büro, und er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Whoa.« Er hob die Hände wie das Opfer eines Überfalls.
Aber Lou ließ nicht locker. »Die Sache ist, wenn wir eine normale Beziehung hätten, würd ich mich wahrscheinlich schon längst nicht mehr für ihn interessieren. Aber, ehrlich gesagt, ich hab eine Schwäche für den schmegegi.«
Diese schlichte Erklärung machte den Händler noch gereizter. »Warum erzählen Sie mir das alles?« Er merkte, dass er die Stimme erhoben hatte.
»Ich glaub, ich werd ihn verlieren. Wenn er mir überhaupt mal gehört hat.«
Julius überlegte, ob er den Sicherheitsdienst rufen sollte, dann fiel ihm ein, dass sein Unternehmen keinen Sicherheitsdienst hatte.
Das Mädchen war einfach nicht aufzuhalten. »Er steckt in der Klemme. Er glaubt, er kann den Rabbi retten, und jetzt ist er zum Haus der Erleuchtung rausgefahren und will wer weiß was anstellen.«
Der Gedanke, dass sein lahmer Sohn ein riskantes Wagnis auf sich nehmen könnte, kam ihm absurd vor. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Müssten Sie und er nicht in der Schule sein?« Julius war selbst erstaunt über die Irrelevanz seiner Frage.
»Das ist ein Wespennest.«
»Die Schule?«
»Das Haus der Erleuchtung! Hören Sie mir nicht zu?«
Julius hatte die Nase voll. »Also …« Sein Räuspern klang wie ein Wackelkontakt im Motor. »Was erwarten Sie jetzt von mir?«
Lou Ella starrte ihn mit ihrem ausdruckslosesten Blick an, dann gab sie es auf. Tatsächlich hatte sie sich zu der Fantasie verstiegen, dass sie und Bernies Vater gemeinsam seinem Sohn helfen konnten, während Bernie den Rabbi vor einem unsicheren Schicksal bewahrte. Aber da saß Julius Karp mit der hilflosen Miene eines Menschen, der gerade auf den Hintern gefallen war. Mit bebender Unterlippe knurrte sie: »Keine Ahnung. Nichts.«
»Und warum ziehen Sie mich dann mit rein?«
»Ich dachte nur, dass Sie es erfahren sollten. Außerdem«, räumte sie ein, »wollte ich meine Sorgen mit jemandem teilen.«
»Na schön, jetzt mach ich mir auch Sorgen. Sind Sie zufrieden?«
»Nein, aber ein bisschen erleichtert.«
»Freut mich zu hören. Und was passiert nun?«
Achselzuckend stand sie auf, um Äonen gealtert, und schlurfte mit einem lauten Seufzen zur Tür. »Eine Tragödie wahrscheinlich.«
Nach dem traurigen, grußlosen Abschied des Mädchens blieb Julius gestrandet am Schreibtisch zurück, geplagt von ungebetenen Erinnerungen. Anscheinend hatte die Neigung der Familie Karp zu leichtsinnigem Verhalten also den Kaufmann tatsächlich übersprungen, um nun seinen Sohn zu befallen. Es lag ein bitterer Trost in dem Gedanken, denn der Fluch, dem er ein Leben lang ausgewichen war, war über seinen Sohn zurückgekehrt, um Julius in den tocheß zu beißen.
Herbst 2002
E r näherte sich dem Haus der Erleuchtung auf einer Vorstadtstraße, die übersät war mit Blättern und quer stehenden Streifenwagen mit zuckenden roten Lichtern. Die heilige Stätte selbst war umringt von Absperrböcken. Schaulustige aus dem Viertel drängten heran und wurden von Polizisten mit Megafonen aufgefordert zurückzubleiben. Medienfahrzeuge standen herum, Betreuer umschwirrten Sprecher mit perfekter Frisur und steckten ihnen Mikros in der Größe von Blutegeln ans Revers, während sie sich den Kameras zuwandten. Geschäftstüchtige Kinder hatten einen Limonadenstand aufgebaut. Die erwartungsvolle Atmosphäre hatte nach Bernies Eindruck aber weniger mit einer Krise zu tun als mit der Vorfreude auf eine Parade, zu der sich Prominente angesagt hatten. Vielleicht war ihm seine Legende vorausgeeilt, und wenn er vor den Barrikaden erklärte: »Der Rabbi ist mein Lehrer, ich habe ihn entdeckt«, würde sich die Menge vor ihm teilen, und die Cops würden ihn durchwinken. Aber wahrscheinlich war das nicht. Und selbst wenn er die Behörden davon überzeugte, dass er ihnen helfen konnte, würden sie das Ganze mit so vielen Bedingungen verbinden, dass er letztlich gezwungen wäre, den Rabbi zu verraten, statt ihn zu retten. Und nichts anderes als eine Rettung
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