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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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einer Tropeninsel anzulegen. Vielleicht konnte Lou auch mitkommen. Nachdem die Vision verklungen war, wurde der Junge auf ein Gewirr von Stimmen aufmerksam, das immer lauter anschwoll, als er die Halle durchquerte und die Schwingtüren öffnete. Er steckte den Kopf in das große überkuppelte Auditorium und bemerkte eine bunte Versammlung auf den Rängen und dem Kunstrasen der Arena, wo die bima des Rabbis stand. Statt der Anspannung, die man vielleicht von Leuten erwartet hätte, die darauf warteten, dass die Axt fiel und das Tränengas strömte, legten die meisten die fröhliche Gelassenheit einer Zuschauermenge bei einer Sportveranstaltung an den Tag. Einige sangen Hymnen, summten oder meditierten im Yogastil, doch viele nickten einfach im Takt der verschiedenen Trommler auf ihren iPods. Allenthalben wurde geschmaust, und zwar je nach Vermögen: Die einen mampften belegte Bagels, andere Brathuhn mit gefülltem Ei, während wieder andere in Designerlaufklamotten Tauben, Camembert und Trüffelpastete aus Picknickkörben von Gourmetläden zogen; dazu tranken sie Mineralwasser oder Sekt. Mindestens ein junges Paar knutschte in aller Öffentlichkeit. Irgendwo aus der Menge drang eine schwadronierende Männerstimme - Bernie erspähte eine sitzende Gestalt mit dunkler Brille -, die darauf pochte, dass sie sich angesichts der Intoleranz der Welt das Leben nehmen sollten. »Lasst uns in Würde sterben«, mahnte er die Anwesenden unter Aneignung eines hebräischen Ausdrucks für den Märtyrertod. Doch die Anwesenden schenkten ihm genauso wenig Beachtung wie der gedämpften Megafontirade von draußen. Alle schienen in bester Feiertagslaune auf das Erscheinen ihres charismatischen Gurus zu warten.
    So viel Geduld hatte Bernie nicht. Er rannte zurück zum gläsernen Aufzug und fuhr hinauf bis unter die Kuppel, wo er die schmale Stahlbrücke überquerte. Vor dem Tastenfeld an der Tür, die mit Spion und Kamera überwacht wurde, zögerte er. Sollte er wirklich läuten? Und wenn sie ihm nicht öffneten? In seiner praktisch uneinnehmbaren Festung hatte der Rabbi vielleicht Anweisung gegeben, niemanden zu ihm vorzulassen, nicht einmal einen Jungen, der sich als seinen Verwandten betrachtete. Bernie überlegte, ob er vielleicht mit einem Gebet den Code des elektronischen Riegels entschlüsseln konnte, oder mit einem Passwort, wie es sein Grandpa Ruby vor einem Speakeasy genannt hatte.
    Plötzlich rollte die schwere Tür ganz von selbst auf; ja, sie rauschte förmlich zur Seite, und es stürzte eine Dame heraus, die Bernie von einem früheren Besuch an ihrem Zuckerwatteschopf erkannte. Schnell drückte er sich ans Geländer, um von der in Tränen aufgelösten Frau nicht umgestoßen zu werden, und beobachtete, wie sie mit dem Lift nach unten verschwand. Dann wanderte Bernies Blick durch die offene Tür in den Raum, den er für sich als Rabbi ben Zephirs Kommunikationshorst bezeichnete. Er war leer bis auf die schlangenhaarige Technikerin in ihrem pastellfarbenen Overall, die sich an ihrer Konsole benahm wie der Pilot eines abstürzenden Flugzeugs. Sie rief zugleich hektisch durch ihr Headset um Hilfe und hämmerte auf die Tastatur ein, dass es knallte wie Artilleriefeuer. An der Schwelle stehend, hatte Bernie Mühe, sich nicht von ihrer Panik anstecken zu lassen. Hatte der Sturm der Polizei auf das Gebäude bereits begonnen?
    Unbemerkt von der Technikerin drang er in die Kommandozentrale vor, um einen Blick in das Schlafzimmer des Rabbis zu werfen, dessen Sprossentüren halb offen standen. Zunächst konnte er nicht glauben, was er da sah, und rieb sich mit beiden Fäusten die Augen. Dann kniff er sie verzweifelt zu, um jede noch verbliebene Illusion zu verscheuchen. Denn unter gedämpftem Licht und beim sanften Gesäusel eines R&B-Sängers knieten zwei Frauen aus dem Kreis der Jüngerinnen des Rabbis auf dem runden Bett und bemühten sich aufopferungsvoll um den auf dem Rücken liegenden nackten Heiligen. Ebenfalls nackt rangen die Jüngere mit dem peitschenartigen Pferdeschwanz namens Cosette und die Ältere mit dem gestrafften Kinn, deren Name Bernie nicht mehr einfiel, offenbar verzweifelt darum, ihn wiederzubeleben. Während Cosette mit dekorativ hüpfenden Brüsten die Hühnerknochen seiner Arme bearbeitete, beugte sich ihre dralle Gefährtin am ganzen Körper bebend über den Rabbi und atmete in seinen Mund, als wollte sie ein Schlauchboot aufblasen. Beide führten ihre Rettungsversuche auf eine Weise durch, die darauf

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