Der gefrorene Rabbi
hatte Bernie sich vorgenommen.
In der Erkenntnis, dass sein Wirken als öffentlicher Guru zu Ende war, hatte Rabbi ben Zephir bestimmt keine andere Wahl, als seinen einstigen Schüler an einen sicheren Ort zu begleiten, wo der zadik seine ursprüngliche Laufbahn als verborgener Heiliger wieder aufnehmen konnte. Aber wie er den rebbe aus dem umstellten Haus der Erleuchtung zu einer geheimen Zufluchtsstätte zaubern sollte, war eine Frage, die Bernie noch nicht gelöst hatte. Aber er war zuversichtlich, dass er zu gegebener Zeit eine Antwort finden würde. Fürs Erste stand er vor dem unmittelbareren Problem, überhaupt zu dem Alten vorzudringen. Er überlegte, ob er sich einfach durch den Polizeikordon schleichen, über die Absperrungen springen und zur Tür sprinten sollte. Aber damit würde er nur das Sondereinsatzkommando auf den Plan rufen, dessen Spezialisten genau für solche Fälle am Ort waren. Außerdem hatte sich Cholly Sidepocket, der unerbittliche Bodyguard des Rabbis mit Spiegelbrille, Chinchillamantel, passender Mütze und verschränkten Armen vor dem Eingang aufgebaut, bereit, jeden, der sich Einlass verschaffen wollte, abzuweisen oder mit einer Kugel niederzustrecken. Bernie erinnerte sich an eine Meditation von Solomon Schlomiel ben Chajim Meinsterl von Dresnitz, die unsichtbar machte, aber diese Technik hatte unberechenbare Nebenwirkungen. Dann fiel ihm eine dritte Möglichkeit ein, und er machte kehrt, um wieder an den einstöckigen Ranchhäusern vorbeizumarschieren, deren geharkte Rasen von Laubbeuteln markiert wurden, die zur Seite hingen wie dicke Kinder beim Sackhüpfen.
Hinter ihm forderte eine Megafonstimme die Besetzer des Hauses auf, herauszukommen und sich »gewaltige Scherereien« zu ersparen. Irgendwie wurde die Wirkung der Worte durch die frische Novemberluft aufgehoben. Nach der nächsten Querstraße stieß Bernie auf ein Ablaufgitter mit einem Aufsatz aus gusseisernen Zähnen, der in den Bordstein eingelassen war. Nach einem kurzen Blick nach links und rechts ging er auf alle viere und zwängte seine dürre Gestalt zwischen Zähne und Gitter. Als er knapp zwei Meter tief in ein flaches Auffangbecken voller Schlick und stehenden Wassers fiel, scheuchte er einen Schwarm müder Mücken auf und spritzte sich Schlamm über Turnschuhe und Jeans. Von dort hievte er sich in die Mündung eines runden Abflussrohrs, durch das er mit eingezogenem Kopf voranstapfte. Es war dunkel im Rohr, aber als erfahrerer Erforscher der dunkleren Bezirke der Psyche strebte Bernie mit blindem Selbstvertrauen weiter.
Nach einem kurzen Anstieg ergoss sich der Inhalt der Zubringerleitung über einen Absatz in das tiefere, breitere Hauptrohr, in das er sich nun hinabließ. Doch kaum hatte er mit den Füßen den Boden berührt und sich aufgerichtet, als er den Halt verlor und auf dem Hintern hinunter in eine mit Regenwasser und Jauche gefüllte Mulde rutschte. Besudelt und durchnässt bis auf die Haut, machte er einen Versuch, sich zu erheben, glitt aber gleich wieder aus, und sein wildes Strampeln hallte laut im Betonstollen wider. Anscheinend hatte sich die Flut des gestrigen Wolkenbruchs bis hierher zurückgestaut und eine Masse von Geröll mitgeschwemmt, die das Kanalrohr verstopfte wie einen ungeleerten Darm. Erst nach einiger Zeit gelang es Bernie, sich hochzurappeln. Über und über mit Dreck verschmiert, als wäre er einem urzeitlichen Sumpf entstiegen, schob er sich langsam wieder die Steigung hinauf, bis er weniger rutschiges Gelände erreichte und vorsichtig seinen Weg fortsetzen konnte.
Während die Häuser oben relativ neuen Datums waren, wirkte das Kanalnetz unten wie das Relikt eines dunklen Zeitalters. Im Gegensatz zu der Anlage in Bernies Viertel, die das Abwasser auf effektive Weise in Auffangbecken und Kläranlagen leitete, schien dieser kloakenartige Durchlass übrig geblieben aus der Ära, als giftig brodelnde Senkgruben Gelbfieberseuchen auslösten. Unterstützt von Lichtschimmern, die durch vereinzelte Gullylöcher drangen, gewöhnten sich Bernies Augen allmählich an das Dunkel. Gelegentlich malten durch Kanalgitter einfallende Sonnenstrahlen fahlgelbe Parallelogramme an die Wände, deren pilzbewachsenes Mauerwerk den Eindruck einer Katakombe noch verstärkte. Weiter vorn löste sich sogar der Boden des Stollens auf wie ein zerbröselnder Eisstau, und der Schmutzstrom schwappte über schartige Betonplatten in eine Jauchegrube. Diese enthielt die Ablagerungen moderner Zivilisation
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