Der gefrorene Rabbi
seine Yetta und vielleicht nicht gerade die umwerfendste Frau, doch in der Einsicht, dass auch er in dieser Hinsicht nicht viel zu bieten hatte (immerhin war sein Äußeres nicht mehr so abstoßend wie früher, sondern nur noch ein wenig fad), gab sich Julius mit seiner Braut zufrieden. Umso erfreuter war er über seine betuchten Schwiegereltern, die ein Vorstadthaus gespendet hatten, um ihm die Sache zu versüßen. In den ausgedehnten Flitterwochen nach der Trauung konnten die Frischvermählten an ihren parallelen Fernsehtischen die Entfaltung der Zeitgeschichte beobachten. Gemeinsam erlebten sie einen Präsidenten, der in Schande von seinem Amt zurücktrat, aber davor noch schnell den King (das heißt, Elvis) zum Ehrenmitglied des Geheimdiensts ernannt hatte. Sie verfolgten das Ende eines Kriegs sowie die Heimkehr und den anschließenden Tod von Elvis Presley, was Julius zu der ehrfürchtigen Bemerkung veranlasste: »In unsere Stadt kommen die Kings zum Sterben.«
Dieses Ereignis gab ihm das Gefühl seiner Jugend zurück, dass Memphis das Zentrum der Welt war. Ungefähr zu dieser Zeit tat Grandma Yokey ihren letzten Atemzug, was Julius aber nur am Rande mitbekam. Mit ihrer androgynen Erscheinung und dem Gefasel darüber, dass sie das Gefäß für die Seele ihres toten Gatten sei, hatte die alte Dame ohnehin nur noch für Verlegenheit gesorgt. Schon in seiner Kindheit hatte Julius es als kränkend erlebt, in der Öffentlichkeit mit ihr gesehen zu werden. Allerdings musste er zugeben, dass sie die Bücher seines Vaters mit großem Geschick geführt hatte. Nachdem sich ihre pergamentene Haut und das maulwurfsgraue Haar jahrzehntelang nicht verändert hatten, setzte plötzlich die Vergreisung ein, und sie wurde nach der Diagnose fortgeschrittener Demenz in das Pflegeheim B’nai B’rith beim Overton Park eingewiesen, wo sie unbeachtet starb.
Während dieser Zeit hatte Ruben Karp allein weiter in der Hawthorne Street gelebt und sich trotz seines wachsenden Vermögens und des verfallenden Viertels um ihn herum immer gegen einen Umzug gesträubt. Daher war Julius sehr überrascht, als sein Vater den flüchtig geäußerten Vorschlag annahm, in den Gästebungalow hinter Julius’ Haus zu übersiedeln. Allerdings wehrte sich Ruben, der wie seine Mutter vorzeitig gealtert war, gegen jeden Versuch seines Sohns und seiner Schwiegertocher, sein Quartier freundlicher zu gestalten, und lebte lieber in mönchischer Kargheit. Sein Rückzug aus dem Geschäft wurde nie offiziell erklärt, doch eines Tages erschien er einfach nicht mehr zur Arbeit, und was er danach trieb, wusste nur er selbst. Die Familie war so begeistert über die ersten Schritte der Tochter und die Geburt eines Sohnes, dass sie die Existenz des Großvaters praktisch vergaß.
Der Geruch, der sie schließlich zu seinen sterblichen Überresten führte, löste sich erst nach Wochen auf. Der Leichenbeschauer stellte fest, dass der Alte praktisch verhungert war. Aber diese Behauptung konnte Julius nie akzeptieren; hatte er nicht immer dafür gesorgt, dass das Gästehaus einen gut gefüllten Kühlschrank und eine funktionsfähige Küche hatte? Unter seinen spärlichen Habseligkeiten fanden sie auf dem Nachttisch einen alten Eispickel in einem schlaffen Kassenbuch, dessen Seiten mit einer Schrift vollgekritzelt waren, die den Orakelknochen eines Wahrsagers ähnelten. Die zerfallenden jiddischen Bücher auf einem kleinen Bord warf Julius weg, und die Kelvinator-Gefriertruhe mit ihrem grausigen Bewohner, die sein Vater bei seinem Umzug in den Bungalow aus dem Geschäft mitgenommen hatte, schaffte er in den Keller des Haupthauses.
In der Folgezeit dachte Julius nur selten an diese Gefriertruhe. Schließlich musste er Kinder aufziehen, seine Position in der Gemeinde stärken und die Werbekampagnen im Fernsehen lenken. Es war ein gutes Leben, in dessen Verlauf er auch Anspruch auf alle Annehmlichkeiten des Mittelstands erhob. Gab es nicht irgendwo ein jüdisches Gebot, das besagte, dass ein Mann ohne Frau und Kinder kein Mann war? Julius war zwar nicht gläubig, aber er schämte sich auch nicht seines Erbes. Da die religiöse Teilhabe seiner Meinung nach eine Bürgerpflicht war, besuchte er an den hohen Feiertagen mit seiner Familie den Gottesdienst. Dabei war ihm stets wichtig, nicht als unamerikanisch wahrgenommen zu werden, eine Sorge, die vielleicht in seiner Geburt im Ausland begründet war. Während er also wie die anderen Mitglieder der Temple Brotherhood seinen
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