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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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sich aufgeben, fiel ihm plötzlich ein, solange er noch nicht einmal seine Jugend hinter sich hatte? Gegen die Verlockung des Bleibens ankämpfend konzentrierte er sich auf das Bild der »Lampe der Finsternis« und versuchte über einen Vers aus den Sprüchen zu meditieren - »Ihn erkenne auf allen deinen Wegen« -, der ihn früher zuverlässig aus seiner Haut herausgeschleudert hatte. Aber seine letzte Reise dieser Art war schon lange her, und in der Zwischenzeit hatte er viel Ballast angesammelt. Bernie sagte sich, dass die Transmigration nicht dauerhaft sein musste. Vielleicht war die von ihm zurückgelassene Hülle gefeit gegen den Verfall und konnte womöglich sogar eingefroren werden. Dann konnte er nach Belieben in sein ursprüngliches Selbst zurückkehren, zwischen den Körpern wechseln und so das Beste von mindestens zwei Realitäten erfahren. Doch all dies war letztlich nebensächlich, da er anscheinend in der Hülle festsaß, die er zurzeit bewohnte. Natürlich gab es eine sichere Methode der Befreiung, die aber endgültig war; sie bedeutete, dass er sich selbst für immer verlor, um den Rabbi zu retten.
    Auf dem Nachtkästchen neben einem mit Puderzucker (oder Kokain?) bestreuten Gebäckteller entdeckte Bernie einen Silbereimer mit einer Magnumflasche Manischewitz. Diese war in einer Nische kalt gestellt, die aus einem riesigen Eiswürfel geschlagen worden war. Der dafür verwendete Eispickel steckte aufrecht neben der Flasche. Entschlossen packte er zu und riss ihn am Holzgriff aus dem Eis. Als er das Instrument vor sich hielt, hörte er eine Stimme in seinem Kopf, die auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädierte. »Das kann ich nicht allein«, gab er zu. Nachdem er sich die Augen abgewischt hatte, nahm er die steif werdenden Finger des zadik in seine linke und faltete sie um seine rechte Hand. Diese umklammerte den Eispickel, den er sich - mit der Bitte um Verzeihung an Lou - bis zum Heft ins Herz rammte. Ein Ruck wie der Tritt eines Pferds durch eine straff gespannte Trommel erschütterte seine Brust, in der der Schmerz explodierte. Wie Rohöl spritzte das Blut heraus und färbte den Morast auf seiner Jacke tiefschwarz. Er wusste nicht, ob er noch auf den Knien war. Seine Nerven und Sehnen sangen wie Drähte, sein Körper forderte das Recht, in die Vergessenheit zu sinken, seine verschleierten Augen wollten die Straße ins Jenseits erkunden, die durch eine malerische Landschaft verlief. Aber er kämpfte dagegen an, um den Vorgang in den wenigen ihm verbleibenden Sekunden des Wachseins zu vollenden. Er musste eine Entscheidung treffen: Welche Öffnung des Rabbis war geeignet für die Übertragung von Bernies unsterblicher Seele?
    Er hatte bereits Abschied von sich selbst genommen, als er mit verlöschendem Blick das immer noch stehende Organ des Alten bemerkte, das ihn an einen ehrwürdigen jiddischen Ausdruck erinnerte: »Er tojg noch.« So hieß es von wollüstigen Greisen: Er kann noch. Dies erschien ihm wie eine glückliche Fügung, aber fast noch größer als seine Qual war sein Abscheu, den er als Relikt des verblichenen Bernie Karp abtat. Als er nach vorn sackte und sich die Nase zuhielt, damit seine neschome nicht entfliehen konnte, war Bernie dennoch erleichtert, sich an einen anderen Text zu erinnern: »Mund zu Mund rede ich in ihn«, wie der Herr zu Moses sagte, als er ihm den Todeskuss gab.

Später
    B eim Prozess zeigte der Rabbi keine Reue und ließ auch sonst vor der Menge, die sich im Gerichtssaal drängte, kaum eine Gefühlsregung erkennen. Nachdem man ihm die Freilassung gegen Kaution, die er nie gefordert hatte, verweigert hatte, wurde er in dem üblichen orangefarbenen Overall, der sich um ihn bauschte wie um einen Besenstiel, mit Trippelschritten aus seiner Zelle im Gefängnis von Shelby County geführt. Die Wachen brachten ihn in Fußfesseln an seinen Platz neben dem Pflichtverteidiger. Von dort verfolgte er das Geschehen mit einem Ausdruck leichten Amüsements, so wie ein schläfriges Kind in ein Aquarium starren würde. Als er im Zuge der Anklageverlesung gefragt wurde, ob er sich schuldig oder nicht schuldig bekennen wollte, konnte sich der alte Mann nicht entscheiden, als hätte man ihm zwei gleichermaßen delikate Leckerbissen zur Wahl vorgelegt. Daher wurde in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise auf nicht schuldig plädiert.
    So kam es zu dem Prozess, in dessen Verlauf der Staatsanwalt Mr. Womack, ein kahler Mann von imposanter Leibesfülle, mit einstudierten

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