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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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konnten sie einander nicht eingestehen. So taten sie ihr Bestes, um den Alten zu verabscheuen, und durchbohrten die kippa, die liederlich wie das eingedrückte Körbchen eines schwarzen BHs auf seinem Hinterkopf saß, mit finsteren Blicken, aber es gelang ihnen nicht, den ersehnten Groll aufzubieten. Trotz der Bekundungen grenzenloser Zuneigung für ihren Sohn und der Schuldgefühle, weil sie sie nie geäußert hatte, gestand Mrs. Karp ihrem Mann in einem Moment der Schwäche, dass »der Rabbi bestimmt seine Gründe gehabt haben musste«. Julius tat zwar, als wollte er seinen Ohren nicht trauen, aber insgeheim gab er ihr beschämt recht. Auch ihre Tochter Madeline war eine Zeit lang anwesend und musste aufgrund der Umstände sogar vorübergehend ihre Karriere als Künstlermodell unterbrechen. War ihr kleiner Bruder schon zu Lebzeiten eine Nervensäge gewesen, so hatte er sich durch seinen öffentlichen Abgang erst recht als peinliche Zumutung entpuppt. Dennoch wohnte die junge Frau pflichtbewusst dem Begräbnis und dem Beginn des Prozesses bei und erklärte sich sogar bereit, in all ihrer pneumatischen Pracht für die Zeitungsfotografen zu posieren. Aber nach einigen Tagen hatte sie die Nase voll von der Unfähigkeit ihrer Eltern, den Angeklagten zu hassen, wie es sich gehörte, und sagte ihnen die Meinung. Als sie antworteten, dass sie sich nicht zu Dingen äußern sollte, von denen sie nichts verstand, beschimpfte sie sie als widerlich und rauschte unter den neugierigen Blicken der Zuschauer aus dem Gerichtssaal und aus dem Leben ihrer Eltern.
    In zorroesk anmutendem Aufzug samt Piratenkopftuch, der ihre Trauerkleidung darstellte, nahm auch Lou Ella Touhy an allen Phasen der Verhandlung teil, manchmal mit, manchmal ohne ihre kleine Schwester unbestimmten Alters. Sie schwänzte die Schule und meldete sich sogar beim Videoladen krank. Der unbekümmerte Eigentümer forderte sie auf, sich nur keine Sorgen zu machen: Bis zu ihrer Rückkehr wollte er das Geschäft einfach auf Vertrauensbasis weiterlaufen lassen. Während der gesamten Argumentationen und Gegenargumentationen saß Lou zwischen Reportern und Neugierigen auf der Galerie und ließ ihren Kaugummi knallen, während sie darüber nachgrübelte, wie es zu dieser Katastrophe hatte kommen können. Sie hatte den Rabbi nie mit eigenen Augen gesehen und fühlte sich wider besseres Wissen angesprochen von seinem wohlwollenden Äußeren. Der verhutzelte alte Wasserspeier mit tränenden Augen, vergilbtem Bart und eingesunkenen Wangen, die von geplatzten Äderchen durchzogen wurden wie von einem blauroten Spinnennetz, schien gleichwohl beseelt von Vitalität.
    Obwohl sie seine Tat mit völliger Fassungslosigkeit betrachtete, war Lou - ähnlich wie die Karps, denen sie geflissentlich aus dem Weg ging - nicht imstande, ihn so glühend zu hassen, wie er es ihrer Meinung nach verdiente. Sie hatte sich vorgenommen, mit aller Kraft um Bernie Karp zu trauern, ihn bis zur Selbstverleugnung zu vermissen, doch immer wenn ihr Blick auf den friedlichen alten Missetäter in Ketten fiel, konnte sie nicht glauben, dass Bernie wirklich verschwunden war. Genau das hatte sie auch am Vorabend der Beerdigung vor der kosmetisch verschönerten Gestalt im offenen Sarg empfunden. Einmal abgesehen von den sogenannten Beweisen (die offensichtlich getürkt waren), konnte sie sich keinen Grund vorstellen, warum ein heiliger Tattergreis ihren Freund hätte umbringen sollen. Hätte er überhaupt das Zeug dazu gehabt? Was an diesem unglückseligen Novembernachmittag im Haus der Erleuchtung vorgefallen war, blieb ein Rästel, das der Prozess nicht zu klären vermochte. Als das Urteil verlesen und der Rabbi abtransportiert wurde, merkte sie, dass sie seine Gegenwart vermisste, und bat Bernie um Verzeihung für die schlimme Treulosigkeit ihres Herzens.
    Schon bei der grotesken Beerdigung hatte Lou nicht den Grad an Trauer aufbieten können, der ihr angemessen schien. Bernies Begräbnis hatte an einem regnerischen Morgen auf einem baumlosen Friedhof stattgefunden, dessen Grabsteine wie Lemminge bergab Richtung Interstate zu marschieren schienen. Wegen der Nähe zum Highway und des Regens, der auf die gestreifte Markise trommelte, bekam die kleine Schar der zwischen den Monumenten zusammengedrängten Trauergäste - unter ihnen der Psychologe und einige Lehrer von der Tishimingo Highschool, dazu einige Eltern, die ihren Sprösslingen zugesetzt, aber nichts anderes aus ihnen herausbekommen hatten als vage

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