Der gefrorene Rabbi
Andeutungen über Bernies Narkolepsie - nur Bruchstücke der Grabrede mit. Das war vielleicht auch besser so, da der Rabbi der Felix-Frankfurter-Gemeinde, was den Verstorbenen anging, offensichtlich seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Das Gesicht ernst unter dem weichen Filzhut, die Hände in den Taschen seines Burberry-Mantels, fing er noch ganz normal an, mit der Erklärung: »Der Herr hat einen Plan für unser Leben.« Doch dann schien er nicht recht zu wissen, worin dieser Plan bestehen könnte. Von der Konvention abweichend erging er sich in verblüffend herzlosen Spekulationen: »Der Junge muss in einem vergangenen Leben schwere Sünden auf sich geladen haben, da er so vorzeitig aus diesem abberufen worden ist.« Sofern sie seinen Worten folgen konnten, trat ein beunruhigter Ausdruck in die Gesichter der Trauernden. Sie vermieden jeden Blickkontakt mit den Eltern des Jungen, die die Hände hinter die Ohren legten, weil sie nicht recht zu hören glaubten. Denn der Rabbi hatte schon wieder die Taktik gewechselt und ließ durchblicken, dass der arme Bernard es jetzt immerhin hinter sich hatte, »da diese Welt im Grunde nur Gottes Nachttopf ist …« Wurden sie soeben Zeugen, wie der Mann den Glauben oder den Verstand verlor? Als hätte er gemerkt, dass seine Stimme von einem anderen geraubt worden war, schlug er sich die Hand vor den Mund und verstummte. Sein völlig entgeisterter Ausdruck wurde von Pressefotografen, die sich nach dem Mord auf jeden noch so kleinen Vorfall stürzten, der in irgendeinem Zusammenhang mit Bernie stand, für alle Zeiten auf Zelluloid gebannt.
Am vorletzten Verhandlungstag ließ Anwalt Frizell den rebbe persönlich aussagen. Vorher hatte er mehrere bocherim (wie sie sich selbst nannten) des Rabbis als Leumundszeugen aufmarschieren lassen, aber ihre verstiegenen Darlegungen spielten nur der Anklage in die Hände. Der schillernde Haufen von Immobilienmaklern, Hadassah-Damen, Automechanikern, Massagetherapeuten und Fußballmüttern hinterließ bei den Geschworenen keinen großen Eindruck mit dem Bemühen, Rabbi ben Zephirs Gott-macht-Spaß-Theologie zu erklären, und brachte die Verteidigung nur noch mehr in die Bredouille. Aus schierer Verzweiflung und vielleicht auch aus dem perversen Wunsch, seinen Kollegen zu übertrumpfen, rief Mr. Frizell Rabbi Elieser persönlich in den Zeugenstand. Bei seinen bisherigen Ausführungen hatte der Advokat die apokryphen Geschichten über den Ursprung des Rabbis heruntergespielt, insbesondere die Behauptung, dass er über ein Jahrhundert lang eingefroren in einem Eisblock verbracht hatte, aber sosehr er sich auch bemühte (und seine Bemühungen waren eigentlich nicht der Rede wert), es war ihm nicht gelungen, den Alten als normalen, soliden Bürger darzustellen. In diesem Punkt wollte er nun Abhilfe schaffen, weil der undokumentierte Status des Rabbis dessen Unbeliebtheit noch verstärkte. Allerdings war es nicht unbedingt förderlich, dass der Antwalt nach der Vereidigung des Rabbis nicht so recht wusste, wie er ihn befragen sollte, da sich der alte Schlawiner sogar im Hinblick auf seinen Namen keine Blöße gab.
»Um das noch mal festzuhalten, Sie sind Rabbi Elieser ben Zephir, auch als Boy-Bitcher Wunder bekannt?«
»Sozusagen.«
Der Anwalt verzichtete lieber darauf nachzuhaken. »Würden Sie bitte dem Gericht mit Ihren eigenen Worten erzählen, was am Nachmittag des 14. November zwischen Ihnen und dem Verstorbenen vorgefallen ist?«
Der Rabbi lächelte freundlich. »Is doß die Preisfrage.«
Inzwischen hatte Mr. Frizell seinen Fehler begriffen: Zumindest hätte er die Aussage seines Mandanten vorher mit ihm absprechen sollen. Der Rechtsbeistand strich sich über sein fettiges, grau meliertes Harr (wobei die Melierung überwiegend aus Schuppen bestand) und wischte sich die Hände an der Hose ab. Er bedauerte bereits, sich auf diesen Versuch eingelassen zu haben. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. »Könnten Sie den Geschworenen also mit Ihren eigenen Worten schildern, was an dem fraglichen Nachmittag passiert ist?«
»Nu.« Der Rabbi runzelte die Stirn, dann klärte sich seine Miene, und seine krächzende Stimme erklang wie eine mit elektrischen Drähten bespannte Fiedel. »Doß Letzte, woß ich mich kann erinnern, hob ich mit Cosette und ihrer Mama gemacht a beliebte alte Technik, woß is bekannt nach der ehrwürdigen Überlieferung als die Verschmelzung mit dem Göttlichen …«
An dieser Stelle räusperte sich der Anwalt mit einem
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